Günter Grass. Künstler der Ungewissheit

Lasst uns dafür sorgen, dass in unserem Land
endlich die Vernunft siegt und Aufklärung sich
ausbreitet wie eine heilsame Epidemie.                                                                         

Mich trägt keine Lehre. Die Lösung weiß ich nicht.
Ich schenke euch Zweifel und rate zum Verlust.

Ich kam nie an, suchte kein Endziel,
blieb unterwegs, bin es immer noch.

–Günter Grass

Literatur der Ausnüchterung

Umstritten wie er auch gewesen sein mag, vielfach gelobt und oft niedergeschrien – Günter Grass hat in der deutschen Kultur- und Demokratiegeschichte seit 1945 unverkennbare Sinnzeichen gesetzt. Nach Jahrzehnten der Wesensvergötzung und Machtperversion des Nationalen war es dieser Zweiunddreißigjährige, der in seiner ‚Blechtrommel’ (1959) ein durch Nazi-Wahn, Krieg und Holocaust ruiniertes Deutschland zu jener literarischen Ausnüchterungs-Groteske modellierte, die dem Ungeist von Beschweigen und falscher Versöhnung das Höllengelächter eines kleinbürgerlichen Schuld-Syndroms entgegenhielt. Das Befremdetsein von sich selbst als Tätervolk anzuerkennen und mit solcher Fragwürdigkeit zu leben – der halbkaschubische Künstler-Schriftsteller hat dies seinen Zeitgenossen in den fünfziger und sechziger Jahren auf erratische Weise beizubringen versucht. Dem literarischen Impetus der ‚Blechtrommel’ zufolge durfte das bundesdeutsche Selbstverständnis nicht mehr in kunstgeweihten Nationalmythen daherkommen, sondern sollte als historisches Projekt einer alltagsgrauen Sühnepflicht erkennbar werden. Es waren die in der jungen Republik umstrittenen Bedingungen der Möglichkeit von Wissen und Verantwortung gegenüber Kriegsinferno und Judenmord, die als moralischer Reflexionskern der ‚Danziger Trilogie’ artistische Funken schlugen.

Schon Oskar Matzerath, der misswüchsige Zeitreisende durch Nazi-Welt und posttotalitäres Biedermeier, dieser fragwürdige Zeuge und durchtriebene Dämon, Angeklagter und Richter gleichermaßen, brachte die Bestialität, die Infantilität und die Verbrechen des Hitler-Regimes und seiner Nachwirkungen in Symptomatik und Sinnbildlichkeit zur Anschauung. Mit der ‚Blechtrommel’ war die ‚Stunde Null’ in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts von Grund auf in Frage gestellt.

Kein anderes Literaturwerk setzte ein so unübersehbares literaturpolitisches Fanal, dieser avantgardistische und doch massenwirksame Roman kam einem erinnerungskulturellen Quantensprung gleich. Zehn Jahre nach Gründung der rheinisch-deutschen Republik musste sich das konservative juste milieu an einen schnauzbärtigen Intellektuellen gewöhnen, der es im öffentlichen Für und Wider zu einem ihrer wortmächtigsten Geistesväter bringen sollte. Am Ende hat dieser Nonkonformist und Wort-Bild-Künstler den public spirit eines jungen Gemeinwesens ohne Leitbild, das seine Identität erst im Verlauf konfliktreicher Selbstfindungsdiskurse aufbauen konnte, beeinflusst wie kaum ein zweiter.

Günter Grass – mit diesem Nimbus verbindet sich eine bundesdeutsche Erfolgsgeschichte, eine geradezu symbiotische, von vielen Irritationen, Abwehrkämpfen und Zustimmungsemphasen geprägte Geist-Macht-Evolution, die mehr als ein halbes Jahrhundert Bestand gehabt, und auch die Außenrepräsentanz der Republik entscheidend mitbestimmt hat. Insbesondere an Grass erlernt der nachkriegsdeutsche Zeitgeist das politische Buchstabieren, und zugleich steigt dieser Wort- und Bild-Werker im Kanon der Weltliteratur zu singulärer Berühmtheit auf. Seit jenen Jahren entwickelt die globale Öffentlichkeit wieder Interesse an deutscher Kultur und Befindlichkeit, an der vormaligen Herrschernation werden Hoffnungszeichen von Selbstkritik und Vergangenheitsbewältigung erkennbar.

Günter Grass und die glückende Demokratie der Bundesrepublik – das umfasst vor allem die Sinn- und Mentalitätsgeschichte von Auschwitz, jenen dunklen Komplex nationaler Erinnerungspolitik, den der Künstler nicht nur in frappierenden Denkbildern und Moralreflexionen fassbar werden ließ, sondern als Person selbst verkörpert hat. Nur eine Ikone wie er vermochte über Jahrzehnte die Glut der schuldbeladenen Zeithistorie so glaubhaft wie skandalumwittert zu schüren, und den Deutschen ihren von Rückschlägen gebeutelten Fortschritt im Schneckengang begreiflich zu machen. Trotz seines höchst empfindlichen Warnsinns vor allem menschlich Regressiven und Desaströsen hat Günter Grass nie aus den Augen verloren, dass seine Landsleute zum Ziel einer weltoffenen und demokratisch ermutigten Zeitgenossenschaft kommen konnten und sollten. Es gibt eine Glanz- und Glücksgeschichte des Kunst- und Wort-Bildners, des politischen Intellektuellen und Literaturnobelpreisträgers von 1999, aber es gibt auch eine Streit- und Verketzerungshistorie dieser unverwechselbaren Person, deren Biographie auf komplizierte Weise in Deutschland geerdet ist.

Fremd und ortlos sei er gewesen, zeitlebens nirgendwo ganz zu Hause, immer auf der Suche, seine Erscheinung habe der des modernen Flüchtlings entsprochen, so beschreibt Salman Rushdie einmal die intellektuelle Physiognomie des Freundes.

Für diesen aus deutsch-kaschubisch-polnischer Heimatlichkeit vertriebenen „Künstler der Ungewissheit“ konnte es demnach nur eine Lebensperspektive geben – sein in die Fremde verschlagenes Ich und seine zerrüttete Zeit aus eigener Gestaltungskraft imaginativ zu überschreiten, um sinnverbürgende Traditionsräume und verlässliche (Wert-)Orientierungen für die eigene Identitätsbildung zu gewinnen. Mit dem Umbruchjahr 1945 ist seine alte Lebenswelt dahingegangen, eine künftige Heimat noch lange nicht in Sicht.

Auf Widerspruch gestimmtes Kriegskind

In Danzig am 16. Oktober 1927 als Sohn einer gemischt konfessionellen, deutsch-kaschubischen Kleinbürger-Familie geboren, und als jugendlich-fanatisches Waffen-SS-Mitglied dem Zweiten Weltkrieg entronnen, teilt der früh Kunstbesessene das existenzielle Dilemma seiner ‚Flakhelfer-Generation’. Glaubensverlassen und skeptisch, vaterlos, sprachlos und geschichtslos gehen Grass und seine Alterskohorte aus dem Krieg hervor, sie sind jung und desintegriert, schuldverstrickt und weltverloren – kraft dieser „ontologischen Unsicherheit“ müssen sie ihre Identität in Zukunft neu (er-)finden. Doch weil dem gebrannten und deshalb unheilbar auf Widerspruch gestimmten Kriegskind die Erwartung des besseren Lebens als Freiheit zum Ästhetischen vor Augen steht, mangelt es ihm nicht an Selbstvertrauen und moralischer Energie. Der fieberhafte Lernfleiß des jungen Mannes ohne Abitur sollte sich bewähren in der Selbstbeauftragung zum öffentlich intervenierenden Erzieher. Grass wird sein, was er immer hat werden wollen – Künstler. Inmitten des Realitäts- und Wertezerfalls nach Kriegsinferno und Holocaust bricht er zu jener Artisten-Biographie auf, die vom harten, widerständigen Stein ausgeht und nie ins Abstrakte und Idealische entweichen wird.

Der junge Bildhauer, Zeichner und Schriftsteller arbeitet sich bald in eine Art Avantgardismus der Gegenständlichkeit hinein. Als Kunst-Schaffender will er das So-Sein der Dinge in ihrer Schwerkraft und Faszinatorik auf sich wirken lassen, aber es geht ihm nicht um die Anverwandlung ans Naturhafte, sondern um ästhetische Distanznahme, um Welt-Anschauung und artistische Selbsterprobung. Wortbildnerisches Sich-Einlassen auf die Wirklichkeit, ohne ihr zu verfallen, Widerspruch, die reflektierte Entstellung der Realität zu erweiterter Erfahrung und Kenntlichkeit – früh melden sich bei diesem Künstler ein skeptisch-humoriges Temperament und die Ausdrucksform der Groteske, der wahrheitskritischen Überzeichnung in Wort und Bild. Welches Kunstprinzip könnte jener ‚absurden’ Nachkriegsrealität sonst noch gerecht werden? Alles an dieser End- und Aufbruchphase drängt nach ästhetischer Vergegenwärtigung, die alten Zeiten und Mentalitäten, aber auch die neuen Ideologeme und Verführungswörter.

Grass schreibt – von 1956 bis 1959 im existenzialistisch aufgereizten Paris – Gedichte und Dramentexte, er verfertigt Opern-Libretti und unternimmt epische Erstversuche im kleinen, bald im großen Maßstab. Eine Art Gesamtkunstwerk scheint ihm damals vorzuschweben. Noch bevor das alles in dem epischen Reißwolf umgeschmolzen wird, der ‚Blechtrommel’, ist der junge Künstler, Lyriker und Theaterautor, der im Mai 1955 zum ersten Mal vor der ‚Gruppe 47’ auftritt, in Deutschland ein bekannter Mann. Bereits in seinen frühen Gedichten und Dramen werden widerständige Problematiken erkennbar, der Poet wendet sich gegen alles Idealische, Hoffnungsselige und Verlogene. Sein Programm ist die Entideologisierung der geistigen Lebenswelt. Vor allem in den Bühnenstücken bildet sich seine Kritik totalitärer Ideen und Verhaltensweisen heraus – mit dem grimmig-verspielten Humor Büchnerscher Provenienz möchte Grass die Tragödie des Menschen sichtbar machen, die Klischees und äußeren Fassaden seiner Zeit niederreißen, damit die monströse Wirklichkeit begriffen werde. Die Grass‘sche Dramatik, schreibt Walter Höllerer damals, setzt ein imaginatives Panoptikum des Antitotalitären in Szene, das dem Adenauerstaat einen anderen Schattenwurf, seine kleinmütige Geschichts- und Schuldvergessenheit vorhält. Der Nonkonformist, Künstler und dreinredende Intellektuelle gewinnt frühzeitig Konturen.

Doch erst in der ‚Blechtrommel’ wird jenes welt-anschauliche Amalgam aus ernüchterter Realitätsemphase und ästhetischem Oppositionsgeist, aus enttäuschter Glaubenszuversicht, existenzialistischer Skepsis und radikalisierter Ethik, aus Fremdheitsvorbehalt und historischer  (Selbst-)Vergewisserung in kühner epischer Panoramatik sichtbar. Mit seinem Welt- und Heimatfresko – Danzig als erinnerter Identitätsort – legt Grass einen Desillusionsroman vor, dessen Stilobsession allem Schwelgen in deutscher Art und Eigentlichkeit widerstreitet. Das Buch meidet jeden Anhauch von nationaler Schicksalsdämmerung und ‚O Mensch‘-Emphase, jede Einkehr ins Heimatfühlige oder Naturfromme, sondern provoziert mit dem tragikomischen Pathos alltäglicher Ungezügeltheit, mit der Zumutung durch Bilder des Abnormen und Bösartigen. Ein vergleichbares Furioso deutscher Täter-Opfer-, Schuld- und Schamreflexion hat es nie zuvor gegeben, das Nazi-Inferno samt demokratischer Nachgeschichte entpuppt sich als Moral-Desaster des kleinen Mannes: Ich, einsichtig, weil ohne Gedächtnis. Oskar, einsichtig, weil voller Erinnerungen. Kalt, heiß, warm, ich. Schuldig bei Nachfrage. Unschuldig ohne Nachfrage. Schuldig weil, kam zu Fall weil, wurde schuldig trotz, sprach mich frei von, wälzte ab auf, biss mich durch, hielt mich frei von, lachte aus an über, weinte um vor ohne, lästerte sprechend, verschwieg lästernd, spreche nicht, schweige nicht, bete. Oskars unerbittlich ruhelose, geradezu stotternde, von Schuld und Scham getriebene Selbst- und Weltbefragung möchte in die empathische Reflexion seiner Leserschaft übergehen. Kein Wunder, dass dieser so artifizielle wie realistisch temperierte Roman damals vielen Zeitgenossen fremdartig und anarchisch, obszön, politisch aufrührerisch und destruktiv erscheint. Der Erzähler-Wechselbalg Oskar tritt ihnen als aufsässige und widerwärtige Figur entgegen, als literarische Gestalt einer pathogenen Moral- und Zeitkritik. Dieser satanisch missratene, ins Idealische verrannte Kleinbürger-Künstler und sein Roman stehen erratisch da – das zerstörte Bild des Menschen anklagend, herausfordernd, zeitlos und dennoch den Wahnsinn unseres Jahrhunderts ausdrückend.

Auf solche Weise durchquert der dem Nazi-Euthanasie-Programm nur zufällig entronnene Gnom auch das deutsche Geschichtsinferno des Holocaust. Seine Suada entwirft eine Partitur des Täter-Opfer-Seins, in der die biblische Heilshistorie zur Katastrophe mutiert, zum Terror gegen die Juden inmitten einer schweigenden Christengemeinde, rassistische Hetze und Mordbrand geraten nach 1933 zur Staatsreligion. In unverkennbarer Manier löst das groteske Narrativ der ‚Blechtrommel’ die abendländische Moral, samt Gottvertrauen und Weihnachtsseligkeit, in ein Miasma von Gas und Blutgeruch auf: es strömt schon wieder Advent. Aber auch Oskar Matzerath erscheint als Täter und Opfer gleichermaßen, er ist von fragwürdiger Existenz und irrtümlicher Geburt, ja er kommt einem jener Ungeheuer [gleich], die entstehen, wenn die Vernunft schläft. Wenn ein Erzählwerk die Sprachpolitik der Versöhnung in der deutschen „Verdrängungskultur“ um 1960 unterminiert, dann ist es die ‚Blechtrommel’. Doch viele Deutsche tun sich schwer damit, dies alles von jenem fremdartigen „Barden Kaschubistans“ und unter „halbslawischer Berserkerei“ gesagt zu bekommen.

Geschichten vom Ende des Humanum

Auch die Novelle ‚Katz und Maus’ und besonders der Roman ‚Hundejahre’ nehmen die Problematik des Nazi-Erziehungs-, bzw. Vernichtungswahns auf. Die ‚Hundejahre‘, dieses „literarische Ungeheuer“, beschwören Warnbilder vor der universalen Gewaltnatur der humanen Gattung herauf. Radikal inkarniert erscheint sie in der Stigmatisierung des Juden zum Musterfall einer kalkuliert konstruierten Abnormität. Das scheuchenhafte Prinzip des Jüdischseins ist in den ‚Hundejahren’ immer wieder Thema, dräuend steht das KZ Stutthof mit seinem Knochenberg im Hintergrund der Danziger Szenerie, bis in alle Poren des Alltags durchzieht brauner Todesdunst, der Odem von Verfall und Verderben die Welt der Grass‘schen Protagonisten. In der Freundschafts- und Gewaltbeziehung zwischen Eduard Amsel und Walter Matern reflektiert der Roman die „negative Symbiose“ zwischen Juden und Deutschen. Und provokant wendet er sich gegen jenes Seins- und Schicksals-Geraune der Nachkriegszeit, dem die Nazi-Mythen und ihre Nebelwörter in Gestalt des Heidegger-Jargons immer noch ablauschbar seien. Auf den Hund gekommen scheint die Vernunft einer Zivilisation, die Auschwitz nicht zu verhindern vermochte, das Hervortreten von Vertierung und wölfischer Brutalität ist dem Erzählgeschehen als Sinnzeichen des immer noch Gegenwärtigen eingeschrieben. Die jüdische Rezeption hat das seinerzeit mit Anerkennung wahrgenommen.

Doch mancher deutsche Zeitgenosse befürchtet damals, das Erzählwerk des Günter Grass könnte dem Beschweigen von Nazi-Wahn und Judenmord ein allzu jähes Ende bereiten. Der Holocaust und kein Schlussstrich unter die Historie der nationalen Schmach? Die verflochtene Motivgeschichte der Schuldandeutung und Schuldverlarvung, des Scham-Diskurses in der  Grass‘schen Werk-Evolution ist so evident wie unbekannt, bzw. immer wieder verzerrt wahrgenommen worden. Schon in der ‚Blechtrommel’ erscheint die Narrenkappe als Tarnkappe des Autors, aber noch bleibt alles verkapselt […]: schamvoll Verschlucktes, Heimlichkeiten in wechselnder Verkleidung.

In ‚Katz und Maus’ tritt seine verbohrte Nazi-Obsession in ein kritisches Licht, in den ‚Hundejahren’ wird seine Ahnungslosigkeit vor dem Ungeheuerlichen der braunen Animalität erkennbar, und im ‚Tagebuch einer Schnecke’ erkundet er das Schicksal der Danziger Juden, das ihm als Jugendlichem keinen Gedanken wert gewesen ist. An der Figur des einstigen SS-Mannes Manfred Augst entwickelt Grass eine Art Gegenfiktion zur eigenen Biographie. So wie der Erlösungs- und Kollektiv-Hysteriker Augst hätte auch er nach 1945 um den politischen Verstand kommen können. Abermals legt der Schriftsteller ein verlarvtes Bekenntnis zum eigenen Versagen ab, er ist selbstbewusst genug, darin ein Memento gegen die ideologische Radikalisierung der 68er Studenten zu sehen.

Von hier aus lassen sich Linien ziehen bis zur Frankfurter Poetik-Vorlesung ‚Schreiben nach Auschwitz’ (1990) und zu ‚Beim Häuten der Zwiebel’ (2006). Allenthalben geht es um die Fatalität moralischer und ideologischer Korrumpierbarkeit, die eigene Schuld und ihr Verschweigen entwickeln sich für den Dichter am Ende zu einer Art Ur-Szene der prekären deutschen ‚Vergangenheitsbewältigung’. Nach dem Eingeständnis seiner Waffen-SS-Beteiligung sollte die öffentliche Wahrnehmung des Günter Grass abgründiger werden, man erkennt damals die subjektive Brüchigkeit einer (politischen) Moralinstanz, jenes schreib-energetische Scham-Geheimnis des Blechtrommlers, aber das Gros der Deutschen hat ihm sein langes Schweigen nicht wirklich übelgenommen.

Das oppositionelle Wappentier

Der so fremdartig-vertraut erscheinende Künstler-Autor, längst eine Berühmtheit der ‚Gruppe 47’, wird im Lauf der sechziger Jahre zur Ikone einer neuen, umstrittenen literarischen Opposition. Als solcher prägt Grass mit seinem weltweiten Symbolkapital seit 1961 auch die Diskussionen und Verhandlungen mit den SPD-Größen um Willy Brandt. Der einstige Emigrant und charismatische Sozialdemokrat wird für den Dichter zur Leit- und Vaterfigur, Brandt zieht ihn in die Nähe zur Parteiräson und vermittelt seiner pragmatischen Politikauffassung, seinem aufgeklärten Revisionismus manche Inspiration. Vor allem deshalb sollte Grass im eigenen Kollegenkreis zu einer ebenso illustren wie beargwöhnten Figur werden, die Beziehung zur Sozialdemokratie wird sich immer wieder als Ferment und als Scheidelinie in den intellektuellen Fraktions- und Autonomie-Kämpfen erweisen. Dass sich ein Schriftsteller als Bürger in die parteipolitische Tretmühle begibt, war im historischen Wahrnehmungsspektrum (linker) deutscher Intellektualität bis dato nicht vorgesehen.

Wenn Grass die Werbetrommel für die SPD schlug, tat er das aus staatsbürgerlichem Verantwortungsbewusstsein, aber auch mit dem Mut des unabhängigen Geistes. Grass möchte mehr sein als ein „ehrwürdiger Neinsager“, den Martin Walser damals beklagt, er will das pragmatische Engagement der Intellektuellen, er fordert Sachkompetenz, partei-orientierte Streitbarkeit und gleichwohl jede Freiheit zur geistigen Selbstentfaltung. Der Autor der ‚Blechtrommel’ und der ‚Hundejahre’ wird zum Duz-Freund Willy Brandts, zum ebenso prominenten wie berüchtigten Wahlredner, zum Politik-Vordenker und unverhohlenen Kritiker. Andererseits verliert der deutsche Intellektuellen-Diskurs dank Günter Grass seine betriebsnotorische Selbstbezüglichkeit, und wird zum Faktor des Meinungskampfes auf der parlamentarischen Ebene der Republik. Dieses Lehrstück nationaler (plebiszitärer) Demokratisierung erhöht die Irritation und das Entrüstetsein bei vielen Politikern, gewinnt aber unter der Wahlbevölkerung immer mehr Plausibilität und Anerkennung. Die Wählerinitiativen der SPD, deren kritischer Impuls einige Jahre später zu den ersten Bürgerinitiativen führen sollte, gehen auf Günter Grass’ außerordentlich erfolgreiche Anstrengungen zurück. Nur einer wie er kann zum „Wappentier“ der Bundesrepublik, zum schnauzbärtigen Inbegriff einer so bürgernahen wie freizügigen politischen Debattenkultur werden.

Dass die SPD 1969 eine Große Koalition mit der CDU/CSU eingeht und den Notstandsgesetzen zustimmt, dass ein Kanzler wie Willy Brandt im späteren sozial-liberalen Bündnis ermüdet und unter schmählichen Umständen gestürzt wird, und dass sein Nachfolger Helmut Schmidt den Diskurs mit den Intellektuellen weitgehend vernachlässigt, stellt auch für Grass einen Prozess der intellektuellen Desillusionierung da. Seither hat sich für ihn der Aggregatzustand des Politischen verändert, das von den Achtundsechzigern beklagte Demokratieversagen, die Virulenz des Neonazismus und die Globalität von Hunger, Krieg und Umweltzerstörung treten in sein Blickfeld. Günter Grass wird vom notorischen Erfolgshelfer der SPD zu deren Kritiker.

Zumal die Auseinandersetzung mit der sich radikalisierenden Studentenbewegung hat dafür neue Bedingungen geschaffen. Berlin wird nicht zufällig zum wichtigsten Zentrum des akademischen Protestes, denn die Metropole hat in den sechziger Jahren Profil gewonnen als neue deutsche Literatur-Hauptstadt. Hier ist ein eng vernetztes, politisch aufgereiztes Kultur- und Diskussionsklima entstanden. Auch Grass ist daran beteiligt, in der Frontstadt ein „bisschen Kennedy“ zu verwirklichen, eine neuartige Symbiose von Geist und Macht. Doch die Idee Hans Werner Richters, „legale Beziehungen“ zur Politik herzustellen, und das „Gerede von den ‚destruktiven’ Intellektuellen“ mundtot zu machen, wird bald abgelöst von einem politischen „Wirklichkeitstheater“ (Hans Mayer), für das die Alt-Linke kein Verständnis mehr aufbringen kann. Die einst im Widerstand verbundene „Gefühlskoalition“ bröckelt, es zieht das Ende des „Narrenparadieses“ herauf.

Aus Sicht der studentischen Revolte geht es um eine neue Form von literatur-politischer Geistesgegenwart, um „Situationsästhetik“, Poesie soll unmittelbar in die subversive Aktion übergehen. Surrealistisch inspirierte Happenings, karnevaleske Formen öffentlicher Provokation und Systemkritik, mediengerechtes Revolutionsgebaren, (un-)verhohlene Gewaltbereitschaft lassen den öffentlich gescholtenen „Radikalinski“ zum Begriff werden, Demonstrationen und Knüppelattacken der Polizei geraten nach Etablierung der Großen Koalition 1966 zu Merkzeichen der politischen Kultur in der Republik. Auch Günter Grass setzt sich in Widerspruch zur ‚revolutionären’ Spontanästhetik der Studenten. Unklar bleibt indes, welche Art Literatur den überzeugenden Sprechort in der Stunde bildet, die es geschlagen hat. Nicht zuletzt deshalb möchte Hans Magnus Enzensberger den Kollegen Grass im Jahre 1968 als „Paradebeispiel des erledigten sozialdemokratischen Reformismus“ vorführen. Doch trotz ihrer ‚subversiven’ Aktionswut bleibt auch Grass ein kritischer Sympathisant der Studentenbewegung, er kämpft darum, die junge Intelligenz in die Bahnen der demokratisch-reformistischen Wählerinitiativen zu lenken. Im Hexenkessel der Berliner Studentenunruhen, die nicht selten von pogromartigen Polizeimaßnahmen des Senats und von Hetzkampagnen der Springer-Presse geprägt sind, tritt er mehrfach als Vermittler in Erscheinung. Gegen den lauthalsen Idealismus der Seminarmarxisten setzt der Dichter einen pragmatischen Politikbegriff, der von selbstbewusster Gesprächsbereitschaft nicht lassen will. Auch in den Jahren danach sollte er gegen jede Revolutionsattitüde und den subkutanen linken Gewaltkult, gegen den offenen Terrorismus und die ihn begleitende Intellektuellenhatz, nicht zuletzt gegen den ‚Radikalenerlass’ eifern. Noch in seinen letzten Lebensjahren wird Grass hervorheben, dass die politische Kultur der Bundesrepublik ein neues 1968 dringend nötig habe.

Kapitalistischen overkill und militärischen Rüstungswahn, Dritte-Welt-Ausbeutung, Naturzerstörung und westliches Demokratieversagen beklagt auch Grass als strukturelle Probleme, aber seine Perspektive bleibt die des Revisionisten im Umkreis der SPD. Auf diese Weise wird der Schriftsteller – wie zu Beginn der sechziger Jahre, so auch an deren Ende – zu einer Art Ferment und zum Scheidepunkt der Umwälzung des politischen public spirit in der Bundesrepublik. Die damalige „Kernfusion von Gegenkultur und Kulturindustrie“ (Walter Grasskamp) verquickt ihn in eine Mehr-Fronten-Streit-Situation. Für Rudi Dutschke ist der „Kampf gegen Grass“ das wichtigste Anliegen der Studentenbewegung, und der jungen Literaturkritiker-Garde erscheint er entweder als SPD-Bonze mit kapitalistischem Habitus, oder als Vertreter des „Narrenstatus“ der obsoleten reformistischen Intelligenz. Die Alt-Linken verdächtigen ihn des blanken Antikommunismus und der Kumpanei mit der Macht, und der bürgerlichen Kulturkritik gilt er als Beelzebub der gesamten Oppositionskultur, oder sie umwirbt ihn mehr oder weniger unverhohlen als denkbaren geistigen Kompagnon.

Kulturnation und Konföderation

Günter Grass ist damals längst in aller Munde, immer mehr Meinungsbildner messen sich an seiner polarisierenden Energie, aber er selbst bleibt eine inkommensurable Erscheinung. Ablesbar ist das auch an seinen Kämpfen um die öffentliche Durchsetzung dessen, was er seit den mittleren sechziger Jahren deutsche Kulturnation nennt. Für Grass dokumentiert sich darin das Identitätsangebot einer Einheit als Konföderation, nicht als zentralisierter Machtstaat – seine Art, die Grundidee der Brandtschen Entspannungspolitik auszudeuten. Dass Politik keine Geheimwissenschaft sei, hätten die kosmopolitischen Patrioten des 18. Jahrhunderts ihren nachgeborenen Kollegen beigebracht, bleut der Wahlkämpfer Grass seinem Publikum ein. Allein dadurch habe dem Land ein Begriff der Nation ins Bewusstsein treten können, den die Linke der sechziger Jahre wiederentdecken soll. In kritischer Nachfolge zu Thomas Manns „Weltdeutschtum“ birgt auch Grass’ Bekenntnis zur Kulturnation eine mundane Verheißung, die Auschwitz keineswegs vergessen will, sondern im Bewusstsein deutscher Schuld aus dem Herkommen der geteilten europäischen Aufklärung neue humanitäre Impulse zu schöpfen verspricht.

Für die Symbiose von Nation und Kultur nichts getan zu haben, erscheint dem Schriftsteller hingegen als Ausweis des reaktionären Politikprofils der Adenauer-Erhard-Ära. Allein der 17. Juni als Staatsfeiertag wird im Westen zum Volksaufstand verklärt und verkommt zu bloßer Scheinhaftigkeit, im Osten ignoriert man das zugrundeliegende Ereignis völlig, und die intellektuelle Kultur beiderseits der Grenze sieht dem nationalen Desaster gedankenarm und tatenlos zu, mahnt der Dichter immer wieder. Dieser historische Befund liegt seinem Theaterstück ‚Die Plebejer proben den Aufstand’ zugrunde, das im Januar 1966 im Berliner Schiller-Theater spektakulär uraufgeführt wird. Das Drama entwickelt sich zum virulenten Politikum und zu einem intellektuellen Streitfall ohnegleichen, in Deutschland-West und -Ost erregt es die unterschiedlichsten Gemüter, nicht zuletzt weil der Vorzeige-Poet Brecht im Mittelpunkt der Handlung zu stehen scheint.

Die DDR-Intelligenzia ist erzürnt ob der vermeintlichen Dichter-Entehrung, und die literaturkritische Debatte im Westen wird noch überboten von einer Erregungswelle, die heftig ans Gemüt der geteilten Nation rührt. Dass der Autor sein Stück losgelöst vom Datum des 17. Juni 1953 sehen will, da es um den Widersatz von idealistischer politischer Theorie und hilfloser Praxis geht, wird im Streit um die angebliche Brecht-Verleumdung kaum deutlich. Dennoch hat es der patriotische Dichter vermocht, den Westdeutschen so etwas wie eine „diskursive Konstruktion“ von nationaler Identität begreiflich zu machen.

Dass sich Günter Grass eine renovierte und durchlüftete Patria wünscht, eine deutsch-deutsche Konföderation, aber keinen rigorosen Neutralismus predigt, stellt ein Rarum in der intellektuellen Debatte dar, vor allem aber – es bleibt kein Lippenbekenntnis. Während die radikale Linke für das ‚Nationale’ kaum ein Interesse entwickelt, und selbst kritische Köpfe wie Enzensberger sich mit der deutschen „Zerrissenheit“ als einziger Identität abfinden wollen, arbeitet Grass seit Beginn der sechziger Jahre an konkreten Verständigungsprojekten zwischen Ost und West. Dass er 1961 in Briefen an ostdeutsche Kulturrepräsentanten gegen die Berliner Mauer protestiert, und später mehrfach mit demokratischer Emphase bei Schriftsteller-Begegnungen in der DDR auftritt, dass er seit Mitte der siebziger Jahre regelmäßig seine Kollegen jenseits der Grenze aufsucht, ja zum Energiezentrum des Ost-West-Literatur- und Meinungsaustausches wird, dass er in den achtziger Jahren als Berliner Akademie-Präsident gemeinsame Protest- und Friedensveranstaltungen mit DDR-Autoren realisiert, ist bei der Staatssicherheit der DDR früh ruchbar geworden. Seit den sechziger Jahren wird Grass als Provokateur und „Feind“ der Ost-Republik in Fahndung gestellt, in den achtziger Jahren verhängt man gegen ihn ein Reiseverbot, das vom Genossen Mielke nur zeitweise aufgehoben werden sollte. Günter Grass, der Propagandist der einen deutschen Kulturnation, sollte noch den Einheitsprozess seit 1989 als kritischer Impulsgeber der DDR-Demokratisierung begleiten. Für ihn sind die Schriftsteller seit je die besseren Patrioten, gleichsam Statthalter der vorweggenommenen politischen Einheit. Erst nach Publikation des Brandt-Grass-Briefwechsels und der Stasi-Akte des Autors erhält das deutsche Publikum eine Ahnung von der patriotischen Bravour dieses „vaterlandslosen Gesellen“.

Das weltumfassende Erschrecken

ünter Grass ist damals längst in aller Munde, immer mehr Meinungsbildner messen sich an seiner polarisierenden Energie, aber er selbst bleibt eine inkommensurable Erscheinung. Ablesbar ist das auch an seinen Kämpfen um die öffentliche Durchsetzung dessen, was er seit den mittleren sechziger Jahren deutsche Kulturnation nennt. Für Grass dokumentiert sich darin das Identitätsangebot einer Einheit als Konföderation, nicht als zentralisierter Machtstaat – seine Art, die Grundidee der Brandtschen Entspannungspolitik auszudeuten. Dass Politik keine Geheimwissenschaft sei, hätten die kosmopolitischen Patrioten des 18. Jahrhunderts ihren nachgeborenen Kollegen beigebracht, bleut der Wahlkämpfer Grass seinem Publikum ein. Allein dadurch habe dem Land ein Begriff der Nation ins Bewusstsein treten können, den die Linke der sechziger Jahre wiederentdecken soll. In kritischer Nachfolge zu Thomas Manns „Weltdeutschtum“ birgt auch Grass’ Bekenntnis zur Kulturnation eine mundane Verheißung, die Auschwitz keineswegs vergessen will, sondern im Bewusstsein deutscher Schuld aus dem Herkommen der geteilten europäischen Aufklärung neue humanitäre Impulse zu schöpfen verspricht.

Für die Symbiose von Nation und Kultur nichts getan zu haben, erscheint dem Schriftsteller hingegen als Ausweis des reaktionären Politikprofils der Adenauer-Erhard-Ära. Allein der 17. Juni als Staatsfeiertag wird im Westen zum Volksaufstand verklärt und verkommt zu bloßer Scheinhaftigkeit, im Osten ignoriert man das zugrundeliegende Ereignis völlig, und die intellektuelle Kultur beiderseits der Grenze sieht dem nationalen Desaster gedankenarm und tatenlos zu, mahnt der Dichter immer wieder. Dieser historische Befund liegt seinem Theaterstück ‚Die Plebejer proben den Aufstand’ zugrunde, das im Januar 1966 im Berliner Schiller-Theater spektakulär uraufgeführt wird. Das Drama entwickelt sich zum virulenten Politikum und zu einem intellektuellen Streitfall ohnegleichen, in Deutschland-West und -Ost erregt es die unterschiedlichsten Gemüter, nicht zuletzt weil der Vorzeige-Poet Brecht im Mittelpunkt der Handlung zu stehen scheint.

Die DDR-Intelligenzia ist erzürnt ob der vermeintlichen Dichter-Entehrung, und die literaturkritische Debatte im Westen wird noch überboten von einer Erregungswelle, die heftig ans Gemüt der geteilten Nation rührt. Dass der Autor sein Stück losgelöst vom Datum des 17. Juni 1953 sehen will, da es um den Widersatz von idealistischer politischer Theorie und hilfloser Praxis geht, wird im Streit um die angebliche Brecht-Verleumdung kaum deutlich. Dennoch hat es der patriotische Dichter vermocht, den Westdeutschen so etwas wie eine „diskursive Konstruktion“ von nationaler Identität begreiflich zu machen.

Spätestens seit Willy Brandts Auftritt vor der UNO im September 1973 beginnt Grass’ Zeitkritik eine Globalperspektive anzunehmen, mit den Fragen nach Lebensqualität und Umweltschutz geraten ihm Entwicklungsprozesse in den Blick, die sich seinem pädagogischen Aufklärungskonzept kaum noch einfügen. Der Dichter bringt nun sein weltumfassendes Erschrecken zum Ausdruck, er plädiert für eine schockierende Aufklärung und für eine verantwortlich handelnde Weltregierung. Der internationale Kapitalismus-Aufschwung, Probleme der Umweltzerstörung, des Auf- und Wettrüstens, der Überbevölkerung, Verarmung und Analphabetisierung, des Hungers und der Arbeitslosigkeit machen den Menschen in seinen Augen mehr zu schaffen als die Defizite des Staatsbürgerethos in aufgeklärter Tradition. Auch bei Grass haben der Zweifel der Studentengeneration an der humanen Legitimität des globalen Kapitalismus und ihre Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, ökologischem Schonverhalten und Lebensqualität deutliche Spuren hinterlassen. Jetzt zeigt die plebiszitäre Dynamik der eigenen Wählerinitiativbewegung ihre Wirkung. Die humane Sinnlichkeits- und Bedürfnisdimension der Politik nimmt in Grass’ Roman ‚Der Butt’ (1977) als Märchengemälde eines Jahrtausende währenden Hunger- und Geschlechterkampfes literarische Gestalt an. Einige Zeit zuvor ist Grass erstmals nach Indien gereist, von wo er mit beredter Ratlosigkeit zurückkehrt: Der Fortschritt […] liegt hinter uns, heißt es unter dem Eindruck des menschlichen Elends auf dem Subkontinent: Auch Hunger ist Krieg, die Wahrheit des Satzes von Willy Brandt ist unabweisbar geworden. Wenn der Wahnsinn in Asien blumig ist, vernünftelt er in Europa. Auch in Deutschland habe Kafka seine Vollstrecker gefunden.

Im Jahre 1980 begründen sich in Deutschland die ‚Grünen’, zum Auftakt des Orwell-Jahrzehnts. Nicht nur die SPD wird bald aufschrecken angesichts der Wahlerfolge der neuen Gruppierung, sondern man macht in der Republik eine diffuse Gemengelage von Zivilisationskritikern, Ökologen und politisch Versprengten, ja sogar Anzeichen einer „Gegengesellschaft“ aus. Zu dieser Zeit übergibt Willy Brandt den Abschlussbericht der von ihm geleiteten ‚Nord-Süd-Kommission’ an UN-Generalsekretär Waldheim, in dem mehr soziale Gerechtigkeit und die Beseitigung von Hunger und Elend in der Welt gefordert wird. Grass reflektiert die politischen und intellektuellen Probleme der neuen globalen Unordnung in seinem Buch ‚Kopfgeburten’, das zwei erschöpfte Mitteleuropäer in den Mittelpunkt stellt, die an ausgelaugten Politik-Programmatiken und albernen Befindlichkeitsstörungen leiden, während ringsum auf der Welt die Menschheit zugrunde geht. Den Scheinfortschritt neuester Technologien geißelt der Dichter, er plädiert für die multikulturelle Gesellschaft, gegen den Abschottungs- und Abstammungswahn und diskutiert das Problem der Weltüberbevölkerung im Widersatz zur deutschen Nachkommensschwäche.

Noch bedrohlicher werden die achtziger Jahre zurzeit der NATO-Nachrüstung in Europa, selbst als Präsident der Berliner Akademie der Künste wird Grass zu einem Rädelsführer der deutschen Anti-Atom- und Friedensbewegung. Zwei Kongresse ost-westdeutscher Autoren zur Friedenspolitik bestimmt er wesentlich mit, Protestzüge und Widerstandsaktionen gegen die Nachrüstung gehen auf ihn zurück, er fordert das Recht, ja die Pflicht zur Verweigerung und Wehrkraftzersetzung im Überwachungsstaat, heftige Debatten über deutsche Nation und Souveränität und vermeintlichen Anti-Amerikanismus sind zu bestreiten – und dann tritt 1982 die ‚geistig-moralische Wende’ des Helmut Kohl auf den Plan. Lässt sich jetzt noch ein demokratischer Patriotismus gegen die konventionelle konservative Nationsauffassung durchsetzen? In Grass’ Büchern ‚Die Rättin’ und ‚Zunge zeigen’ sollten die Barbarisierung der Politik, das Elend der Aufklärung und die zynische Vernunft als provokante Exotik-Reisen literarische Gestalt annehmen.

Wieder einmal kam es – aus Anlass seines Romans ‚Die Rättin’ – zum heillosen Streit über die Bedeutung und den geistigen Standort des Intellektuellen am Beispiel des Günter Grass. Der Dichter als guter Mensch, als Mahnwache und Missionschef der Erziehung des Menschengeschlechts, dessen Protest oder Solidarität nach allen Seiten wohlfeil sei, der Überdruss am Bekenner und Zeitdeuter, am medial versierten Gutmenschen brach sich ungehemmt Bahn. Der habe die Beziehung zur konkreten Geschichte und Politik verloren, zumal auch die SPD von Grund auf gescheitert sei. In der Literaturkritik ging es jetzt nur noch darum, die Haltung und die politischen Invektiven eines Schriftstellers wendegemäß der Lächerlichkeit preiszugeben. Grass erhielt Recht mit seiner Diagnose der ausgezehrten Aufklärungstradition in Deutschland, sie schlug ihm entgegen als postmodern aufgeplusterte Verantwortungslosigkeit und als zynisches Intellektuellen-bashing, als einigermaßen blindwütige Apokalyptik. Diese unwirtliche Republik verließ der Schriftsteller abermals in Richtung Indien, von wo er in seinem Wort-Bild-Band ‚Zunge zeigen’ verstörende Zeugnisse der Not und des Hungerdesasters in der Welt mitzubringen hoffte. Aber was sollte sein Buch ausrichten in einer Öffentlichkeit, die zum Wanderzirkus geworden war, in dem postmoderne „Environment-Artisten und Video-Hexer, Schausteller und Dekorateure, Deklamatoren und Sinn-Designer [in einem] Meer von Künsten“ die Oberhand gewonnen hatten? (Hans Magnus Enzensberger).

Bürgerrevolution und hässliche Einheit

An der deutschen Revolution, die sich seit November 1989 in der DDR vollzog, hatten charismatische Köpfe und das öffentliche Wort einen entscheidenden Anteil, und dennoch setzte sich der Prozess publizistischer Verketzerung und Demontage der Intellektuellenfigur mit Vehemenz fort. Der Autor von ‚Ein weites Feld’ (1996) will eines um keinen Preis – ein zentralisiertes Großdeutschland, ein Monstrum, das Machtstaat spielen und Auschwitz vergessen könnte. Hingegen möchte er etwas anderes mit ganzer Kraft – eine demokratisch-sozialistisch renovierte DDR als politisch abstrahlenden Partner der BRD, ja eine deutsch-deutsche Konföderation in aufgeklärt europäischer Perspektive und Verantwortung. Doch von all dem wird nichts realisiert, denn der Einheitsprozess seit dem 3. Oktober 1990, der ohne revidierte Verfassungsgrundlage bleiben sollte, führt zur politischen und ökonomischen Übernahme und Kolonisierung des Ostens durch den Westen. Im Moment ihrer Verwirklichung droht die deutsche Kulturnation in eine hässliche Einheit abzustürzen.

Der Blick des hochgemuten Aufklärers, des literarischen Zeitreisenden und Dritte-Welt-Empathikers Günter Grass, fokussiert sich nun zu dem des patriotischen Kritikers, der bald in unversöhnlicher Opposition steht gegen den politisch-medialen Block eines neu aufkommenden Patriotismus à la ‚Berliner Republik’. Grundiert waren und blieben die Grass‘schen Invektiven im moralischen Monitum Auschwitz und in der Angst vor dem Vergessen des „lehrreichen“ Befreiungsjahres 1945. Könnte nun in strotzender deutscher Machtherrlichkeit ignoriert und verworfen werden, was die Demokratisierung der Bundesrepublik erst möglich gemacht hat? Der sich hysterisierende public spirit in diesem neuen Deutschland hielt für den Dichter manche Schrecknis bereit. Ein Land, in dem der DM-Imperialismus und die ‚Treuhand’ zu skrupelloser Zerstörung ganzer Wirtschaftslandschaften befugt waren, in dem die Verflachung der deutschen Frage zur bloßen Währungseinheit selbstverständlich wurde, in dem Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit und eine aggressive Festungsmentalität blühten, in dem die DDR-Schriftsteller als Verräter und Büttel des Honecker-Regimes diffamiert, ja die Intellektuellen überhaupt als desolate Sonderlinge diskreditiert wurden, in dem sich nur noch nationale Gefühligkeit breitzumachen schien, konnte Grass nicht mehr als Heimat erkennen.

Dass er den einheitsgewendeten Landsleuten in dieser Lage auch noch die Schamschwelle Auschwitz vor Augen hielt, ließ ihn in der Öffentlichkeit vollends als anachronistischen Störenfried, als Schwarzmaler und vaterlandslosen Gesellen erscheinen. In der einschlägigen Publizistik fielen nun Sätze wie: „Die ursprungsmythische Macht der deutschen Barbarei ist erschöpft. Der Rückblick erhellt immer weniger die Zukunft. Die Staatsbürgerschaft des ‚Anderen Deutschland’ ist erloschen, denn die intellektuelle Verantwortung für die Gegenwart ist eher größer geworden.“ Dagegen Grass: Wir Deutsche sollten die Last Auschwitz nicht nur als Last ansehen, sondern auch als etwas, was uns unter Schmerzen dazu gebracht hat, Demokratie ernst zu nehmen, und Vorkehrungen zu treffen, dass sich so etwas nicht wiederholt. Ein Mann wie Rudolf Augstein dekretierte 1990, der Zug der Einheit sei abgefahren und Auschwitz werde „automatisch durch die Geschichte relativiert.“ Man müsse sich von dem Gedanken trennen, dass der einstige Völkermord noch konstituierend für den künftigen Lauf der Welt sei. Für Arnulf Baring war Auschwitz keine „Essenz unserer Geschichte“ mehr, es sei falsch zu glauben, die deutsche Vergangenheit könne „nur im Lichte der Vernichtungslager gesehen werden.“ Und Michael Stürmer beteuerte: „Um wieder eine normale Nation zu werden, sollten wir uns der selbstkritischen Erinnerung an Auschwitz erwehren.“

Dass Günter Grass in solchen Verdikten ein geschichtspolitisches Trauma wahrnehmen musste, war unabweisbar. Das Klima der aggressiven Denunziation intellektueller Einreden wurde in der Bundesrepublik jetzt noch schärfer, wobei die Empfindungs- und Meinungskämpfe um den Kosovo-Krieg (1999) und den Irak-Krieg (2003), um das Berliner Holocaust-Denkmal und die Auschwitz-Rede Martin Walsers in der Frankfurter Paulskirche eine stimulierende Rolle spielten. Man muss die Streitereien um den Grass-Roman ‚Ein weites Feld’ (1996), um seine Paulskirchen-Rede zu Ehren Yasar Kemals (1997), seine Autobiographie ‚Beim Häuten der Zwiebel’ (2006), sein Gedicht ‚Was gesagt werden muss’ (2014), und um seinen Literaturnobelpreis in ihrer maßlosen Ausuferung als eine symptomatische Entwicklungslinie betrachten.

Grass hatte mit seinem Roman ‚Ein weites Feld’ den Deutschen das Hausbuch einer freundlich-selbstkritischen Geschichts- und Gegenwartsbefragung offeriert, doch sofort sollte es von einer brachial zu Werk gehenden (westdeutschen) Kritik à la Reich-Ranicki niedergemacht werden. Unter völliger Verkennung der artistischen Leistung des Romans, die deutsche Nationalgeschichte zwischen 1871 und 1989 vermöge eines ironisch-kritischen „Herbariums versteinerter Ansichten, Metaphern, Wortverdichtungen“ (Wolfram Schütte) nachspürbar zu machen, wurde dem Einheitskritiker Grass nicht nur literarisches Unvermögen und Gegenwartsverlust, Geschichtsrelativismus und Beschönigung der DDR-Verhältnisse vorgeworfen, sondern man griff ihn als Person direkt an. Etliche Kritiker sahen das Buch wieder einmal als Beweis dafür, dass Intellektuelle – die Verwalter der gescheiterten Utopie – bei gesellschaftlichen und politischen Problemen endgültig nicht mehr gefragt seien. Besonders an Grass, der Legende des ‚Großintellektuellen‘, könne man studieren, dass sich die „Gesinnungsästhetik“ aus 47er Zeiten überlebt habe.

Dass dieses „imperiale Ich“ in der Laudatio auf den türkischen Dichter Yasar Kemal seine Scham über die restriktive deutsche Asylpolitik zum Ausdruck brachte, dass er sich in seiner Autobiographie ‚Beim Häuten der Zwiebel’ nach Jahren des Schweigens als ehemaliger Waffen-SS-Kämpfer outete, und man ihn aufgrund seines späten Gedichts ‚Was gesagt werden muss’ als Israel-Feind, ja als Antisemiten glaubte entlarven zu können, bildete den Spitzengrat dieser (oft weltweiten) Auseinandersetzungen um einen Intellektuellen, der seinen deutschen Zeitgenossen gleichsam ins kollektive Nervensystem eingewachsen zu sein schien. Eine nahezu hautempfindliche Gereiztheit, geprägt von medialem Überdruss und verkrampftem Selbstbestätigungseifer, durchzog die Invektiven vieler Grass-Kritiker. Jetzt sprach man von einem „vorrationalen Überzeugungskern“ der westdeutschen Linken, der als „Gefühlslage alle ideologischen Ernüchterungen überlebt habe und unreflektiert in die neue, vereinigte Republik eingeschleppt“ worden sei.

Wortkünstler und Staatsbürger

Dieser aufgewiegelte (Schuldabwehr-)Geist der ‚Berliner Republik’ entwickelte kaum eigene intellektuelle Konturen, aber er wollte endlich den Generationswechsel, den Wandel der Deutungshoheit und die Demission jener großen Alten, die über so lange Zeit den public spirit Bundesdeutschlands majorisiert hatten. Noch an den Reaktionen auf den Literaturnobelpreis des Dichters wurde diese Ambivalenz erkennbar. Nach anfänglicher Euphorie, den Schriftsteller als weltweit gewürdigten Nationalautor im Ruhmeslicht zu sehen, stellte sich ein peinlich berührender Katzenjammer ein. Es habe den Falschen getroffen, hieß es hier und dort in der Presse, keineswegs sei das Grass‘sche Gesamtwerk, sondern nur die ‚Blechtrommel’ prämiert worden. Im Übrigen könne man alles vorhersehen, was dieser vom Willen zur Repräsentation besessene Autor von sich gebe, sein manichäisches Weltbild mache ihm jede Reflexion auf die nach 1989 veränderte Rolle des Schriftstellers unmöglich. Und noch einmal hieß es, Grass figuriere als leibhaftiger Anachronismus, der alte Mann mit dem reflexhaften Engagement habe sich zur Karikatur des Intellektuellen entwickelt, er tanze nur noch im Takt der Medien.

An der Wirkungsgeschichte des Schriftstellers und Künstlers Günter Grass erstaunt die periodische Wiederkehr des Immergleichen. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um einen extrem polarisierten, oft genug konfusen öffentlichen Wahrnehmungs- und Urteilsprozess, der aus dem vermeintlichen Widerspruch von ästhetischer Sprach-Bildnerei und politischer Ich-Inszenierung bei diesem enfant terrible nicht herauskam. Was Günter Grass, bundesdeutsches „Wappentier“ und schmauchender Grimmbart, als selbstverständliche Dualität von freiem Schriftsteller-Künstler und verantwortlichem Staatsbürger praktizierte, war seit den sechziger Jahren für viele Kritiker ein Anlass zur Irritation, ein Ärgernis. Wie oft ist er zu seinen runden Geburtstagen oder für bestimmte Werke, für das ‚Treffen in Telgte’, ‚Im Krebsgang’, ‚Grimms Wörter’, für seine Stasi-Akte, den Briefwechsel mit Willy Brandt, oder für sein letztes Buch ‚Vonne Endlichkait’ nahezu einhellig gelobt worden, aber auf welch verheerende Weise hat man seine großen zeitdeutenden Romane wie die ‚Blechtrommel’, ‚Hundejahre’, ‚Die Rättin’, ‚Der Butt’ oder ‚Ein weites Feld’ in zutiefst kontroverse, oft hilflos zu nennende Befindlichkeits- und Deutungsstreitereien jeder (politischen) coleur gezerrt.

Der jahrzehntelange publizistische Erfolg des Günter Grass rührte nicht zuletzt von jenem Synergie-Effekt her, den er so einfallsreich wie konsequent genutzt und in Szene gesetzt hat – der Verklammerung von literarischem Gegenentwurf und zeitkritisch-politischer Parteinahme: Das Gedicht kennt keine Kompromisse; wir aber leben von Kompromissen. Wer diese Spannung aushält, ist ein Narr und ändert die Welt. Stets ging es um mehr als den Dualismus von Artistentum und Bürgerverantwortung, sondern um eine Kunstidee und Kunstpraxis, die ohne innerliche Verknüpfung mit widerständigen, dabei pädagogisch temperierten Welt- und Zeitbezügen nicht denkbar gewesen wäre. Schon die ‚Danziger Trilogie’ wurde zum literarischen Ausdruck und Ferment der deutschen ‚Vergangenheitsbewältigung’, in den ‚Plebejern’ zeichnete sich die debakulöse Ost-West-Spaltung ab, ‚Örtlich betäubt’, ‚Davor’ und ‚Ausgefragt’ reflektierten die Revolutionsattitüden der 68er Bewegung, das ‚Tagebuch einer Schnecke’ sinnierte über Parteipolitik und intellektuelles Engagement, der ‚Butt’ wurde zum Historiogramm der ökologisch-feministischen Zurüstung des Zeitgeistes, in den ‚Kopfgeburten’, in der ‚Rättin’ und in ‚Zunge zeigen’ spürte man das Vibrato von NATO-Nachrüstung, Umweltzerstörung und Dritte-Welt-Verantwortung, die Novelle ‚Im Krebsgang’ debattierte die Frage der deutschen Kriegsopfer und des nachwirkenden Rechtsradikalismus, und schließlich wurde der Roman ‚Ein weites Feld’ zum ironischen Geschichtspanoptikum des nationalen Einheitsdilemmas. Immer war die Grass‘sche Literatur in (zeit-)historischen Spannungen verortet und wollte auf sie zurückwirken, politische Parteinahme und literarische Imagination verwiesen, bei allen Unterschieden in der Darstellungsform, aufeinander und verstärkten sich wechselseitig: Wer genau hinsieht, wird bemerken, dass meine literarische Arbeit wie mein Versuch, in der Politik Bürgerrechte wahrzunehmen, den gleichen Ansatz haben. Über ein halbes Jahrhundert lang zeichnete sich die wendungs- und konfliktreiche Politik-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik ab in diesem Kunst- und Schreib-Werk von weltliterarischer Bedeutung.

Auschwitz und die Aura des Nationalautors

Wer als Leser zu Grass’ Büchern griff, tat das zumeist und tut es wohl immer noch, um seines unverwüstlichen Nimbus und seiner einzigartigen Sprachimpulsivität innezuwerden, aber auch um die Zeitstimmungen und das Problembeben, die kritische Erfindungsenergie dieser Texte zu genießen. Und immer wieder hat sich dabei eines gezeigt – Grass’ Person und Werk provozierten nicht nur, sie verkörperten selber die Präsenz des Mementos Auschwitz im Bewusstseinshaushalt der Bundesrepublik. Wo der reizbare Patriotismus des Dichters sich erkältete, schien die Nation einen Schnupfen zu bekommen, und dies oft vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Das verschärfte noch einmal die wechselseitigen Empfindlichkeiten im Lande, und konnte manchen Überschwang in der rhetorischen Eskalation erklären.

Die Heterogenität und Vorurteilsgeladenheit der Grass-Rezeption wurde besonders deutlich an dem Verdikt, er sei ein Verächter Israels, ein mehr oder minder verkappter Antisemit. Die Wurzeln derartiger Tiraden lagen im aufkommenden Verdachtsklima der sechziger Jahre und haben sich durchgehalten bis 2012, als es zu einer deutschlandweiten, ja globalen Auseinandersetzung um sein Gedicht ‚Was gesagt werden muss’ kam.

In sachlich falscher, verbohrter und ehrenrühriger Weise hat man sich damals eines inflationären und banalisierenden Antisemitismus-Begriffs bedient, der sein „ursprüngliches emanzipatives Aufklärungspotenzial nahezu vollends zugunsten interessengeleiteter, perfider Diffamierungstaktiken und -strategien“ eingebüßt habe, schrieb Moshe Zuckermann. Diese „entstellt-entstellende Nomenklaturorgie“ sei besonders in Deutschland zum zentralen Faktor der „Degeneration der öffentlichen Debatte im Hinblick auf alles, was ‚Juden’, ‚Israel’ und den ‚Zionismus’ belangt, avanciert.“ Nicht nur ein Mann wie Ariel Scharon habe einst jede Kritik an Israel als zwangsläufig antisemitisch empfunden, noch immer würden jüdische „Denkimperative“ vermittels einer hinterhältigen und einschüchternden Schmähpraxis durchgesetzt.

Günter Grass als Antisemit – ausgerechnet dieser deutsche Intellektuelle und Künstler, der sich zeitlebens wie kaum ein zweiter in die von Schuld, Scham und Nichtvergessendürfen grundierte Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch Auschwitz vergraben hat, sollte zu einem Verächter des Jüdischen gestempelt werden. Solchen Injurien ist massiv und begründet widersprochen worden, aber die Willkür, Unsachlichkeit und Aggressivität bei vielen Kritikern bezeugte doch ein merkwürdiges deutsches Syndrom von Autorwahrnehmung und Erinnerungskultur. Dass in den neunziger Jahren ein ominöser Geist der ‚Berliner Republik’ von sich reden machte, der das Problem Auschwitz aus der ‚normalen’ deutschen Geschichte und aus der jungen Staatsgründungsidee verbannen wollte, hat keine Tradition gestiftet, aber es führte zu einer Art Schwundform des Schuldeingedenkens, zu einem gewissermaßen frei verfügbaren Antisemitismusverdacht. Im Fall Grass galt für einige Kritiker in diesem Sinne seit Jahrzehnten die höchste Alarmstufe der Empfindlichkeit, denn immer schien bei solchen Streitereien auch die Legitimität des Intellektuellen in einer moralisch sensiblen Demokratie-Kultur auf dem Spiel zu stehen, und damit nicht zuletzt die Eigenwertschätzung des Medien-Betriebspersonals selber.

Hochgelobt wurde Grass, oder verdammt und heruntergemacht, zu verschiedensten Anlässen oft von denselben Meinungsmatadoren, eine Mittellage der Rezeption gab es zumeist nur in der einschlägigen Literaturwissenschaft. Von so etwas wie einer kritisch-toleranten Dichterverehrung, von der reflektierten Akzeptanz eines ‚Nationalautors’ war der mainstream des bundesdeutschen Identitätsdiskurses, der so oft unter eigenen Selbstrechtfertigungszwängen zu leiden hatte, über lange Zeit weit entfernt. Doch einen ‚Widersprechkünstler’ vom Schlage Günter Grass konnte man nicht mundtot machen. Selbst wenn ihm öffentlich Fehler, Schwächen und Maßlosigkeiten nachgewiesen, oder wenn diesem „Erzrepräsentanten der deutschen Schulderinnerung“ gar ein „pathetisches Sprechen ohne Scham“ (Karl Heinz Bohrer) vorgeworfen wurde, sein alter, tief im Gemütshaushalt vieler Zeitgenossen sitzender Nimbus verjüngte sich Mal um Mal, und rief neben mancherlei Abneigung und Überdruss einzigartige Sympathiewellen hervor.

Der lebensbejahende und sinnenfreudige Pessimist Günter Grass war und ist wohl nach wie vor Fleisch vom Fleische der Nation und ihrer in die Jahre gekommenen Republik. Er war oft genug ihr erregendster Zentralnerven-Stimulus und ihr sorgenträchtiges Herzgewächs, er polarisierte nicht nur immer wieder das Publikum in Freund-Feind-Bekenntnis-Rituale, sondern sein Berühmtheitsgrad unter den Deutschen überstieg nicht selten den von Movie-Stars und Spitzenpolitikern. Kein anderes Kunst- und Literatur-Lebenswerk nach 1945 ist ersichtlich, das die mentalitären, kulturellen und politischen Auf- und Abschwünge der Bundesrepublik in vergleichbarer Repräsentanz und Problemschärfe widergespiegelt und beeinflusst hätte wie dasjenige des Günter Grass. Angesichts seiner Allgegenwärtigkeit kam es manchem Zeitgenossen vor, „als gäbe es Grass schon immer.“ (Heinz Friedrich).

Es muss wohl diese Art von Hautempfindlichkeit zwischen den Deutschen und ihrem Künstler- und Bürger-Tribunen gewesen sein, die immer wieder zu den heftigen, oft maßlosen Gefühlsausschlägen im nationalen Befindlichkeitsfieber geführt hat. Aus der Rückschau betrachtet, könnte es sich noch bei den unversöhnlichsten Streitereien gleichsam um negative Formen der Wertschätzung gehandelt haben, sie dürften an der eigenen Rat- und Machtlosigkeit gegenüber diesem diskursiv unauflösbaren, über Jahrzehnte festgefügten (globalen) Dichter-Nimbus laboriert haben. Die veröffentlichte Meinung wütete – aber das große Publikum blieb seiner Autor-Ikone beharrlich treu. Noch Günter Grass’ vermeintliche Selbstdiskreditierung als ehemaliges Waffen-SS-Mitglied, in den Medien hysterisch heraufbeschworen, hat unter Lesern und Kennern kritisches Verständnis gefunden. Ein unbefleckter Held und lupenreiner Moralapostel hat Grass selber niemals sein wollen. Die Deutschen schenkten diesem biographisch lädierten, schamgeplagten Autor-Ich weiterhin ihr reges Interesse. Zwar sprach er gelegentlich von einem Zerrüttungsverhältnis zwischen der Kritik und sich selbst, aber das Fundament seiner so grenzenlosen wie robusten Reputation wurde dadurch nicht erschüttert.

Dichter und Künstler, Aufklärer und Patriot

Der Tod des Schriftstellers am 13. April 2015 könnte einen „Anerkennungswandel vom Störenfried zum Nationaldichter“ möglich gemacht haben. Zwar wusste Grass, dass seine Landsleute ihren toten Dichtern fleißige Kranzbinder und Trauerdarsteller sind, aber man wird die Lauterkeit des Gedenkens an die „deutsche Stimme der Weltliteratur“ nicht verkennen dürfen. Wenn jetzt von einem Renaissance-Menschen und Gesamtkunstwerk die Rede war, vom Idealbild des Bürgers, vom Nationalpoeten und vor aller Welt gekrönten Dichterfürsten, von dem Mann, der Deutschland verkörperte, dann wurde mehr heraufgerufen als ein Arsenal eingeübter Lobesfloskeln. Die Kritik näherte sich auf ihre Art wieder der Grundstimmung im Grass-Lesepublikum. Dieser nicht unerwartete und doch so plötzliche Tod löste in Deutschland einen Schock aus, die Medien überschlugen sich in Gedenkbetriebsamkeit, und die Menschen reagierten mit einem erneuten Bücher-Kaufrausch in Sachen Grass.

Als Zeitzeugen erkannten und erkennen sich viele Deutsche in der multimedial nach wie vor präsenten Geistes-Physiognomie dieses Künstlers wieder, auch wenn seine Allgegenwart und seine Polarisierungsenergie in der Vergangenheit nicht wenigen oft zu schaffen gemacht hat. Aber dem standen und stehen unbestreitbare Sympathiewerte in der Dichter-Nation-Beziehung gegenüber. Seiner Liebe zu den Deutschen und zu ihrer Sprache, das hat Grass wiederholt erklärt, sei Kritik immer schon unverzichtbar gewesen. In der Tat gab es bei ihm selten eine Haltung zum national Eigentümlichen, die frei gewesen wäre von pädagogischer Reinigungsabsicht, aber dass die Deutschen nach 1945 aus ihrer Nazi-Vergangenheit gelernt haben und passable Demokraten geworden sind, betonte er am Ende seines Lebens nicht ohne Stolz. Oft hat Günter Grass betont, wie sehr ich dem Wohl und Wehe der Bundesrepublik und damit dem immer noch nicht abgeschlossenen Versuch, hierzulande die Demokratie zu etablieren, verbunden bin. […] Kritik soll auch Fürsprache sein; und Fürsprache ist der schwierigste Teil der Kritik. Früher hielt man diesen beißenden Kritiker in aller Welt für den Repräsentanten eines ‚besseren’ Deutschland, heute dürfte das auch für den Patrioten gelten.

Günter Grass hat seine Vorstellung von der Republik Deutschland am stärksten in den Zeit- und Ordnungsmaßen der sechziger und siebziger Jahre verinnerlicht – er hätte darin gern ein weltoffenes Gemeinwesen in der Tradition von Aufklärung, demokratischem Sozialismus und nationaler Geschichtsverantwortung gesehen, das im streitbaren Konsens zwischen Parlamenten und Parteien, diskursfähiger Öffentlichkeit und mutiger Zivilgesellschaft die deutschen Geschicke von jeder ökonomischen wie ideologischen Heteronomie freizuhalten vermag. Für eine kurze Zeitspanne, in der Willy Brandt und die SPD sein erklärter Inspirationsmittelpunkt waren, mag der Dichter diesem Projekt eine wirkliche, wenn auch am Ende nicht einlösbare Chance zugebilligt haben. Ursprung und Fokus seines politischen Gedankenradius und seiner Meinungsemphasen ist es gleichwohl geblieben bis zuletzt.

Grass hat Entscheidendes beigetragen zur Ausprägung der Figur des Intellektuellen in Nachkriegsdeutschland, und doch hat er sich nie als ‚Gewissen der Nation‘, als ‚Praezeptor Germaniae’ verstanden. Hingegen nahm er den eigenen Dichterruhm gern in die Pflicht für eine Art Wächteramt über die demokratische Verfassungswirklichkeit in seiner Heimat. Der 68er ‚Studentenrevolution’ widerstritt er nicht ohne Sympathien, sondern im Interesse einer liberalen politischen Pragmatik, und noch die rot-grüne Ära der Republik hat bei ihm manche Hoffnung auf die künftige Vitalität des demokratischen Sozialismus genährt. In beiden Fällen ging es um die Bedingungen der Möglichkeit eines staatsbürgerlich ermutigten, geschichtsbewussten und weltoffenen Patriotismus der Bundesdeutschen in Europa. Er selbst hatte zu jener Zeit den Höhengrat seines öffentlichen Einflusses allerdings überschritten. Doch dem Dichter der Deutschen war, wenn auch nicht ohne Bedenken, die nationale Einheit in Uneinigkeit ans Herz gewachsen. Dies zeugte noch einmal vom sympathisierenden, schneckenhaften Optimismus des großen Demokraten.

Der Intellektuelle und Künstler muss ein Bekennender zur Universalität der Menschenrechte und ein sachkompetenter, pragmatischer homo politicus sein, das hat Grass lebenslang als Leitbild festgehalten. Drei Problemkomplexe waren es, um die sein extrem empfindliches politisches Gespür und seine unverhohlenen Befürchtungen immer wieder kreisten – das Vergessen von Auschwitz mitsamt dem Verlust der deutschen Schuld-Besonnenheit, das Reüssieren irrationaler, rechts- wie links-ideologischer Kräfte, und die Stigmatisierung und Aussonderung fremder, zumal emigrantischer Minderheiten. Was in seiner Nazi-Jugend geschehen war, schien im Alter an potenzieller Bedrohlichkeit nichts verloren zu haben. Grass trug zeitlebens eine tiefe Angst vor der schuldhaften Verstrickung des Einzelnen in die menschengemachten Desaster des Wider-Vernünftigen mit sich, totalitäre Machtperversion, inhumanen Kollektivismus und die Fatalität politischer Heilsversprechen hatte er hautnah zu spüren bekommen: Das war es – ist es wohl immer noch: Zeitenwende. Erlösung. Das Reinigende, Befreiende.

Dem steht eine Haltung des Bürgers Grass gegenüber, die sich nach all den Streitereien um die Bedeutung des Intellektuellen/Künstlers in der Gesellschaft als zukunftsfähig erwiesen hat, denn immer noch muss die Demokratie mit argumentativer Kraft und Bekennermut gegen ihre Widersacher und ihre Gefährdungen verteidigt werden. Zudem lässt die fragmentierte Medien-Öffentlichkeit bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung den (staats-)bürgerlichen Konsens zerfasern und veröden, gegen stimmungspolitische Hysteriewellen stehen nicht viel mehr als eine normativ geschwächte Politik und die diffusen Effekte von Netz-Kampagnen, Experten-Debatten und Prominenten-Talk-Shows. Mag das Credo des auratischen Intellektuellen angesichts der medialen „Metamorphose der Welt“ (Ulrich Beck) auch an Bedeutung verloren haben, Günter Grass, Altmeister der kunstgeschärften Tiefendeutung nationaler Gegenwartsbefindlichkeit, charismatischer Konfliktmagnet, im Für und Wider unverwechselbarer Bürger und Künstler, spätromantischer Aufklärer und Patriot er fehlt der demokratischen Streitkultur in der Bundesrepublik.