Digitale Live-Veranstaltung zu 55 Jahre Wahlkontor deutscher Schriftsteller
Grass‘ Wörter
„Für mich waren die sechziger Jahre, was man landläufig eine erfolgreiche Schaffensperiode nennt. … Und wenn ich genau zurückdenke, erinnere ich mich, wie ich 1961 meine ersten Wahlredenspickzettel für Willy Brandt geschrieben habe, daß also auch diese parallele Arbeit ein Jahrzehnt lang mein oft mürrischer Begleiter war; ironischerweise blieb auch auf politischem Feld der Erfolg nicht aus.“
Verehrte, liebe Literatur- und Geschichtsfreunde,
diese Wörter schrieb Günter Grass am 18. Dezember 1969 an die Verlegerin und Freundin Helen Wolff in New York. In der Tat hatte sich der Schriftsteller Grass schon 1961 in den Wahlkampf eingemischt und für die SPD geworben, insbesondere für Willy Brandt, dem die Sympathie des politisch engagierten Grass galt. Vier Jahre später war es maßgeblich der Initiative von Grass zu verdanken, dass die SPD das „Wahlkontor deutscher Schriftsteller“ einrichtete. 20 jüngere Autoren und einige Autorinnen zogen Mitte Juni 1965 ins Westberliner Schimmelpfeng-Haus ein, darunter Peter Härtling, Klaus Wagenbach, Friedrich Christian Delius und Gudrun Ensslin. Sie schmiedeten Ideen, entwarfen Wahlkampfslogans und korrigierten Redeentwürfe. Günter Grass selbst machte sich auf Wahlkampfreisen durch die Republik; er wählte mit Bedacht Orte, in denen er mit Widerspruch rechnen musste, beispielsweise im konservativen Cloppenburg, wo der Schöpfer der „Blechtrommel“ vor 3000 Menschen und unter Transparenten wie „Heute ist kein Schweinemarkt“ mit Eiern und Tomaten beworfen wurde.
Wahlkontor und Wahlkampf der Intellektuellen für die SPD lösten jedenfalls ein beträchtliches Medienecho aus. Über ihren Erfolg lässt sich wohl streiten. Nach der Wahl zum 5. Deutschen Bundestag konnte die SPD ihren Stimmenanteil zwar erhöhen, aber verfehlte ihr Ziel, stärkste Fraktion zu werden. Am 2. Oktober 1965 schrieb Günter Grass an Willy Brandt: „Zu allererst möchte ich Ihnen sagen, daß mich das unbefriedigende Wahlergebnis vom 19.9. noch mehr bestärkt hat, auf meine Art den Sozialdemokraten zu helfen, also auf meine Art Partei zu ergreifen.“ Der Kanzlerkandidat der SPD hatte sich zuvor „aufrichtig“ bedankt für die klare Parteinahme des Literaten Grass und mitgeteilt: „Ich muss jetzt einige Tage Luft schnappen.“ Die glorreiche Zeit von Willy Brandt und die des politischen Grass sollte 1969 kommen.
Die digitale Veranstaltung Wahlkontor Reloaded?! der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kooperation mit dem Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen möchte an eine einzigartige Einrichtung erinnern, die am 16. Juni vor 55 Jahren gegründet wurde. In den Gesprächen über Live-Stream geht es aber auch um mögliche Vorwärtsstrategien mit dem Ziel, im Verhältnis von Kultur und Politik gemeinsame politische Bedarfe und Anknüpfungspunkte auszuloten. Welche kulturpolitischen Strategien muss es mit Blick auf die Covid-19-Pandemie jetzt geben? Wäre eine Initiative wie das Wahlkontor heute noch vorstellbar – als Impulsgeber für die Sozialdemokratie? Gedanken darüber machen sich Ministerpräsident a.D. Kurt Beck, der Historiker Bernd Rother, Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda und die Schriftstellerin Peggy Mädler. Wir laden Sie herzlich ein, live dabei zu sein – am 16. Juni 2020 um 19.30 Uhr auf
Wahlredenspickzettel schrieb Grass für Brandt; und auch Gedichte wurden zu einem wichtigen Medium für das politische Einmischen und Dreinreden. Für die SPD warb Günter Grass auf seine Weise und mit einem Augenzwinkern:
Glaubt dem Kalender, im September
beginnt der Herbst, das Stimmenzählen;
ich rat Euch, Es-Pe-De zu wählen.
Für Kurt Beck, Ministerpräsident a.D. und heute Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung, ist überzeugt: „Mitte der 1960er Jahre wurde Günter Grass zum Spiritus Rector der Verbindung zwischen SPD und Intellektuellen, die das geistige Klima in Deutschland nachhaltig verändern half und mitwirkte an den Wahlsiegen von 1969 und 1972.“
Tipp
„Willy Brandt und Günter Grass – Der Briefwechsel“ (2013) und „Günter Grass / Helen Wolff: Briefe 1959 – 1994“ (2003) sind erschienen bei Steidl, Göttingen.