Trommelwirbel April 2024

Grass‘ Wörter

Wir wollen ihn uns warmhalten,
noch lange um den Tisch sein 
und kleine Schlucke üben. 
Unter dem Kaffeewärmer sitzt der liebe Gott 
und kann es nicht verhindern, 
daß er langsam kalt und böse wird.

     Günter Grass-Gedicht „Der Kaffeewärmer“     

Liebe Literaturverbundene,  

Theodor Fontane, der Wanderer durch die Mark Brandenburg, lebte den größten Teil seines Lebens in Berlin. Dort zog er dem Vernehmen nach mehr als zwanzigmal um. Ob er wohl selbst mit anpackte und Koffer und Kisten schleppte? Die Gründe für die Wechsel mögen vielfältig gewesen sein: Ballast abwerfen, Altlasten beseitigen, Neues beginnen, Rastlosigkeit. Jedenfalls hat die ausgeprägte Mobilität die geistige Schaffensfreude des Dichters keineswegs beeinträchtigt. Auch der als Schreiber, Zeichner, Bildhauer und Wahlhelfer überaus aktive Günter Grass verfügte über eine Art Zugvogel-Gen, zumindest in den jüngeren Jahren: Düsseldorf, Berlin, Paris, wieder Berlin. Mehrere Umsiedlungen innerhalb der Städte waren üblich.

Umzüge sind anfangs ein Kraftakt, dem aber zunehmend Erleichterung folgt, insbesondere wenn eine Spedition das Schwere und Sperrige übernimmt. Bei der Bremer Günter Grass Stiftung hieß es dieser Tage wieder einmal: Alles muss raus! Anfangs residierte die Stiftung in der alten Stadtwaage im Herzen Bremens, siedelte dann in Räumlichkeiten der ehemaligen International, später Jacobs University Bremen um, die sich bald als überdimensioniert erwiesen. Also weg von dort!

Mit Archivschränken, Ausstellungstraversen und gesamtem Inventar ging es hinauf in den dritten Stock einer Grundschule auf der Überseeinsel. Die Institution, die das geistige Erbe eines berühmten, alten, mittlerweile verstorbenen Literaten hütet, und eine Einrichtung, die Kindern die Welt erklärt, gemeinsam unter einem Dach – eine charmante Vorstellung. Allerdings: Die Schule brauchte bald immer mehr Platz für Unterricht und Bildung. Dem wollte die Stiftung natürlich nicht im Wege stehen – und wich. Freilich nur 500 Meter weiter, einmal quer über den großen Platz. 

Die neuen Büros befinden sich nun dort, wo die Wiege jenes Bremer Kelloggs-Produktionswerks steht, das 1964 erstmals hanseatische Corn Flakes, also Frühstücksflocken fabrizierte: Auf der Muggenburg 30, zwischen Hafenanlage und ehemaligem Verladebahnhof. An dieser Stelle soll nun nicht weiter über Tapetenwechsel berichtet werden, sondern von einem neuen Gesicht. Der Stiftungsvorstand hat kürzlich Sabine Pamperrien, promovierte Literaturwissenschaftlerin und Autorin, zur Geschäftsführerin ernannt und in die neue Wirkungsstätte entsandt. Frei nach einem Motto des Wahlkämpfers Grass – ein paar Mal kräftig durch die Räume gepustet, damit sich Staub gar nicht erst bildet – bloß nicht träge werden, sondern loslegen und durchstarten. Sabine Pamperrien sorgt für frischen Wind in der Stiftung und im Medienarchiv und bringt kluge Ideen ein. Mit Planungen für einen weiteren Umzug darf sie sich ruhig Zeit lassen.

Streithähne Grass und Walser 

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Mehr als 12 Jahre hatten Günter Grass und Martin Walser nicht mehr miteinander gesprochen, obwohl sie einst Weggefährten in der Gruppe 47 und – man kann es wohl so sagen – befreundet waren. 1994, also vor 30 Jahren, gelang es dem Norddeutschen Rundfunk, die beiden Kontrahenten vor dem Mikrophon im NDR-Funkhaus Hannover zusammenzubringen, zum „Gespräch über Deutschland“ fünf Jahre nach dem Mauerfall. Über Themen wie „Nation“, „Einheit“ und „Erbe von Auschwitz“ hatten sich die beiden Granden der deutschsprachigen Literatur entzweit, vor allem politisch. Ihre Positionen polarisierten sich mit der Wende: Während der einst linke Martin Walser in einer vielbeachteten Rede bereits 1988 seinem „Geschichtsgefühl“ für eine nationale Einheit der Deutschen Ausdruck gab, plädierte der den Sozialdemokraten nahestehende Grass nach der Grenzöffnung für eine behutsame Konföderation und warnte vor einer übereilten Vereinigung. Für den Rundfunkbeitrag wechselten beide zwar wieder von Angesicht zu Angesicht Worte miteinander, die Meinungen blieben aber äußerst kontrovers. Jedenfalls erregte das Grass-Walser-Gespräch bundesweit große Aufmerksamkeit. Noch heute wirken die deutschen Themen und Probleme, über die die zwei Autoren stritten, aktueller denn je.

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„Das Grundgesetz ist als Text eine starke und klare Grundlage unseres Miteinanders in der Bundesrepublik. Man sollte es singen!“ Das sagte die Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Sandra Richter, anlässlich des 75. Jahrestages des Grundgesetzes, das im Mai 1949 in Kraft trat. Dem hätte Günter Grass zugestimmt. Im Art. 20 heißt es: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Schriftsteller Grass zog 1965 wochenlang als Wahlkämpfer durchs Land, um Willy Brandt zu unterstützen. „Dich singe ich, Demokratie“ – war der Titel einer seiner Reden, in der er das fröhliche Pathos des US-Lyrikers Walt Whitman aufnahm, der in seiner Zeit Amerika und die Demokratie besungen und die Fehler des Landes beklagt hatte. Grass wie wohl auch Whitman wollten Politik nicht allein den (womöglich noch falschen) Experten überlassen.

Als Oskar noch nicht da war

Vortrommler der 
„Blechtrommel“

„Geschätzte Hüterinnen und Pfleger des Nachlasses von Günter Grass“ – so beginnt eine freundliche Mail, die der Kulturpräsident von Graubünden uns dieser Tage schickte. Köbi Gantenbein fügte das obige Foto aus den frühen 50er Jahren hinzu, auf dem zwei Schweizer Knaben so etwas wie das Vorspiel zur „Blechtrommel“ abliefern, noch bevor der gleichnamige Weltroman von Günter Grass überhaupt erschienen ist. Journalist und Buchautor Gantenbein: „Ich lese grad zum fünften Mal die ‚Blechtrommel‘; da gab mir der Herausgeber eines neuen Buches über Hansruedi Giger ein Bild vom jungen Giger als Oskar Matzerath (links im Bild). Ich hatte große Freude am Bild, die ich gerne mit Ihnen teile.“ 
Hansruedi Giger war ein bildender Künstler, Maler und Grafiker, der es mit seinen Bühnenentwürfen und Sets für die „Alien“-Filme zu Weltruhm brachte. Er wurde mit seinen Schreckbildern zur Hollywood-Größe und zu einem Oscar-Preisträger. Ruedi, der Surrealist, starb 2014 in Zürich. Übrigens: „Die Blechtrommel“ und die Schweiz sind ein Kapitel für sich. Die Hauptfigur Oskar Matzerath wurde dem Vernehmen nach in einer Familie im eidgenössischen Lenzburg geboren.

Zu guter Letzt

—- Seit den letzten Sitzungen von Vorstand und Kuratorium Ende Mai hat die Stiftung einen neuen Vorstand für vier Jahre, der im Wesentlichen der alte ist. Vorstandsvorsitzender bleibt Klaus Meier. Seit geraumer Zeit profitiert die Stiftung von seiner Kreativität und – mehr noch – von seiner finanziellen Großzügigkeit. Klaus Meier ist seit vielen Jahren Hauptförderer der Günter Grass Stiftung Bremen. Dem Vorstand gehören außerdem an: Bürgerschaftspräsidentin Antje Grotheer, Konrektorin Sabina Schoefer, Jörg-Dieter Kogel und Horst Monsees. Ausgeschieden sind Andreas Niemeyer und Joachim Treusch, denen die Stiftung für ihre stete Unterstützung und Loyalität zu großem Dank verpflichtet ist. Als stellvertretender Vorstandsvorsitzender hat gerade Joachim Treusch mit seiner Expertise und seinen Beziehungen als renommierter Wissenschaftler die Stiftungsarbeit befördert und aufgewertet – seit 2006. 

—- Die Bremer Stiftung gehört zum Netzwerk der Günter-Grass-Standorte, die das Jahresprogramm zum 100. Geburtstag des Literaturnobelpreisträgers 2027 vorbereiten. In Bremen wurde bereits die Basis für ein Projekt gelegt. Gemeinsam mit der Bremer Shakespeare Company soll Günter Grass auf die Bühne gebracht werden. Es sei daran erinnert, dass in den 1950er und 1960er Jahren Grass sich auch als Theaterautor verstand, er verfasste etliche Stücke wie das als „Deutsches Trauerspiel“ betitelte „Die Plebejer proben den Aufstand“. 1964, vor 60 Jahren, hielt Grass zum 400. Geburtstag von William Shakespeare in der Akademie der Künste Berlin eine Rede: „Vor- und Nachgeschichte der Tragödie des Coriolanus von Livius und Plutarch über Shakespeare bis zu Brecht und mir.“ Die Zusammenarbeit von Shakespeare Company und Grass Stiftung folgt also einer gewissen Tradition.