Grass‘ Wörter
„IN GDANSK
schenkte mir ein Übriggebliebener
jenen mürben Lappen, der zu Freistaatzeiten über den Seestegen meiner Kindheit flatterte, bis die Fahne der Sieger gehißt wurde,
worauf alles in Scherben fiel.
Seht nur: die polnische Krone
über den Kreuzen der Deutschritter.
Ein Sammlerstück,
mottengefährdet."
Aus "Fundsachen für Nichtleser" (1997), Steidl Verlag
Verehrte, liebe Literatur-Interessierte,
Siegfried Lenz und Günter Grass, die die deutsche Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur wie wenig andere prägten, waren Weggefährten, Kollegen, Freunde. Ihre Erzähl- und Schreibkunst verband sie, gewiss, aber auch ihr politisches Einmischen, ihre Parteinahme für die Sozialdemokratie. Die beiden großen Dichter und Denker standen im Mittelpunkt eines Siegfried-Lenz-Abends am 24. Januar im Haus der Bürgerschaft. Dabei stellte der Göttinger Literaturwissenschaftler Prof. Heinrich Detering eine von ihm herausgegebene, neu kommentierte Gesamtausgabe der Werke von Lenz vor. Er diskutierte mit Mitherausgeber Prof. Harro Zimmermann aus Bremen über einen Autor, den man gerne als zurückhaltende, höfliche, brave Erscheinung wahrnahm. Und das ist gut so – „So zärtlich war Sulyken“.
Unabhängig davon war Lenz einer, der mit klarem Blick, scharfem Verstand und ausgezeichneter Feder die gesellschaftlichen Verhältnisse und Menschen in Grenzsituationen erfasste und in seinen Erzählungen und Romanen verewigte. Ein Glücksfall. Wie das in seinem Nachlass gefundene, unveröffentlichte Romanmanuskript von 1951. Es wurde erst 2016 nach seinem Tod als „Der Überläufer“ herausgebracht. Warum? Der Verlag hatte sich geweigert, den Text zu drucken, und Lenz hatte Zugeständnisse und Korrekturen abgelehnt. Das, was Lenz niedergeschrieben hatte, war politisch hoch brisant, weil es nicht in die Nachkriegszeit des Eigentlich-Weiter-So passte. Deshalb wanderte das Manuskript für Jahrzehnte in die Schublade.
Der Roman erzählt die Geschichte von Walter Proska, der im letzten Kriegssommer 1944 bei einem Partisanenangriff fast zu Tode kommt und sich irgendwann entschließt, zu den russischen Truppen überzulaufen, Die Desertation bekommt ihm am Ende nicht gut, weil er in der späteren Sowjetischen Besatzungszone ein neues repressives System erfahren muss. Dieser Roman steht wohl exemplarisch für die freiheitlich-demokratische Mission eines Lenz‘ in bereits jungen Jahren: sich gegen Unterdrückung, Ausgrenzung, Unrecht, Nationalismus und Militarismus zu wenden und darüber schriftlich und mündlich immer wieder zu erzählen. Lenz ist hoch aktuell.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie Anregendes im Newsletter entdecken!
Horst Monsees
(Geschäftsführer Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen)
Aus dem Medienarchiv
In dem von Radio Bremen produzierten Filmbeitrag von 1981 unterhalten sich Siegfried Lenz und Günter Grass über Phantasie. Als Lenz einmal über einen Fußabdruck an einem Flussufer rätselte, wie der wohl dahin gekommen sei und wem der gehören möge, prägte er das schöne Wort von „Selbstversetzung“. Nein, kein Verkehrsmittel, sondern Teil der Phantasie. Das Video können Sie hier ansehen.
Bremer Literaturpreis
Im Rathaus der Hansestadt ist in dieser Woche der mit 25.000 Euro dotierte Bremer Literaturpreis verliehen worden. Er ging an den österreichischen Schriftsteller Arno Geiger. Ebenfalls freuen durfte sich der Autor Heinz Helle über den Förderpreis. Die Günter Grass Stiftung gratuliert den Ausgezeichneten.
Erinnern musste man sich an den Bremer Literaturpreis, als vor wenigen Tagen in der Bremischen Bürgerschaft eine neue kommentierte Gesamtausgabe der Werke von Siegfried Lenz vorgestellt wurde. Der Abend unter dem Motto „Erzählen als demokratisches Angebot“ wurde vom Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen mit veranstaltet, so dass sich immer mal wieder Querverbindungen zwischen Leben und Wirken der beiden bedeutenden Vertreter der deutschen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur einstellten. Verbindendes wurde genannt wie auch das Trennende. Siegfried Lenz bekam 1962 den Bremer Literaturpreis für sein Schauspiel „Zeit der Schuldlosen“. Zuvor waren der Preis und seine Vergeber in eine tiefe Krise geraten. Denn vor genau 60 Jahren hatte die Jury Günter Grass den Preis für seine gerade erschienene „Blechtrommel“ zugesprochen. Doch der Bremer Senat distanzierte sich Mitte Dezember 1959 und entschied, den Vorschlag der Jury wegen der „literarischen Beschreibung (…) von Ekel und Sexualität, Tod und Blasphemie“ in diesem Buch abzulehnen. Düpiert verließen drei Mitglieder das Preisgremium. Nach monatelangen Beratungen einigten sich die Stadtregenten immerhin darauf, den Bremer Literaturpreis in die Verantwortung einer von politischen Einflüssen freien, unabhängigen Stiftung der Stadt zu geben, die den Namen des Bremer Schriftstellers und Übersetzers Rudolf Alexander Schröder tragen sollte. Der Preis mit neuem Inhalt unter altem Namen erfreute als ersten nach dem Debakel Siegfried Lenz.
Übrigens: Der jüngste Preisträger Arno Geiger brach während seiner Dankesrede eine Lanze für Schröder, dem ein ambivalentes Verhältnis zum Nationalsozialismus nachgesagt wurde. Schröder hatte sich für die Jüdin Karoline Borchardt eingesetzt. Geiger zitierte aus einem 1945 erschienenen Essay von Schröder: „Hätten wir erkannt und getan, wozu wir berufen und verpflichtet waren, so hätten wir uns […] rechtzeitig zur Gegenwehr zusammengeschlossen. […] Als dann im Sommer 1933 und 1934 auch die Verschlafensten aufwachen mussten, als die stumpfe Brutalität, die blutrünstige Verlogenheit der neuen Gewalthaber immer schamloser sich entblößten, war es zu spät.“ Geiger meint dazu: „Die Menschen muss man rechtzeitig wecken. Was man Rudolf Alexander Schröder vorwerfen kann, ist, was er sich selbst vorwirft: dass er den Gegner unterschätzt, sich arrangiert, dass er zu lange geschlafen hat. Was man ihm nicht vorwerfen sollte: dass er letztlich den Kopf eingezogen hat.“ Geiger attestiert Schröder Mut, weil dieser sich für eine Jüdin eingesetzt hatte, um sie vor der Deportation zu bewahren, aber dabei erfolglos blieb.
Trauer um einen Grass-Freund
Im Januar ist der Oberbürgermeister von Danzig, Pawel Adamowicz, ermordet worden. Sein sinnloser, grausamer Tod hat Vorstände und Mitarbeiter der Grass Stiftung tief betroffen und traurig gemacht. Sie fühlen mit der Familie und Menschen in Danzig und haben ein Kondolenzschreiben geschickt: „Pawel Adamowicz galt als Symbolfigur für Offenheit, Liberalität und Demokratie in Polen. Danzig und Bremen kennzeichnet eine lange Städtepartnerschaft. Es ist aber auch das Erbe des großen Schriftstellers Günter Grass, das die beiden Städte verbindet – sichtbar im Grass-Haus in Danzig und im Grass-Medienarchiv in Bremen. Adamowicz hat sich seine Wertschätzung für und sein Vertrauen in den berühmten Sohn seiner Stadt stets bewahrt, auch in schlechten Zeiten, als Grass seine SS-Mitgliedschaft als Jugendlicher offenbart hatte. Der Schöpfer der „Blechtrommel“ gehörte für ihn „zur Familie“. Die Treffen der beiden fanden stets „unter Freunden“ statt. Günter Grass setzte zu Lebzeiten in seinen Werken seiner Geburtsstadt Danzig immer wieder ein literarisches Denkmal. Mit dem breiten bürgermeisterlichen und bürgernahen Vermächtnis von Pawel Adamowicz wird dessen Heimat Danzig ebenfalls ein Denkmal gesetzt – ein politisches.“
Ein weites Feld
Toute une histoire
Als Philippe Wellnitz, bis vor kurzem Direktor des Institut Francais Bremen, sich aus der Hansestadt verabschiedete, um in Montpellier neue Aufgaben zu übernehmen, hinterließ er vieles: Projekte, Ideen, Freunde – und auch ein Buch, das er unserem Medienarchiv schenkte. 2001 hatte der promovierte Germanist die Schriftenreihe „Günter Grass – Ein weites Feld / Toute une histoire“ an der Universität Strasbourg herausgegeben. Die Beiträge von französischen und deutschen Autoren analysieren das Werk, das in den Medien gerne als der Einheitsroman von Grass bezeichnet wird – jedenfalls ist es ein von Theodor Fontane inspiriertes Werk. Die Schriftenreihe liefert Lese- und Interpretationshilfen, konzentriert sich auch auf den politisch denkenden und engagierten Demokraten Grass, der die Schritte zur deutschen Vereinigung und das Verhalten der Bundesregierung sehr kritisch begleitete. Sein deutsch-deutscher Weg wäre ein dritter gewesen, so etwas wie ein Staatenbund mit größtmöglicher Souveränität auf beiden Seiten. „Aber was rede ich. Wer hört noch zu“, wird er im Einheitsjahr 1990 zitiert. Nachzulesen auch in diesem wertvollen Buch.
Günter Grass und Frankreich: Der Schriftsteller lebte mit seiner ersten Frau Anna von 1956 an für einige Jahre in Paris. Hier entstanden wesentlich Teile seines ersten, weltweit bekannt gewordenen Romans „Die Blechtrommel“.