Trommelwirbel März 2023

Frühjahrs-Journal 2023 – Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen

Grass‘ Wörter

Waren das Zeiten, als der Hackbraten
„falscher Hase“ genannt wurde
und uns ein Wackelpudding,
wie sonntags wir Kleinbürger ihn mögen,
als „Götterspeise“ auf der Zunge zerging.

aus dem Gedicht: „Kleine Versschule“

Verehrte Literaturfreunde,
liebe Literaturfreundinnen,

„Da passiert ja nichts!“ Das erfuhren wir kürzlich als Vorwurf einer Person, die durchaus einen gewissen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung in der Stadt hat. „Da passiert ja nichts!“ Auf ein Archiv gemünzt, könnte man meinen: na ja, Archiv halt; da sind die Dinge stumm, liegen dumm herum. Aber das wäre eine Ansicht von vorgestern, geradezu töricht. Nein, mit „Da passiert ja nichts!“ bezog sich der Herr auf eine besondere Online-Plattform, die von der Günter Grass Stiftung Bremen vor knapp drei Jahren, anlässlich des fünften Todestages des Namensgebers, ins Leben gerufen wurde. „Da passiert ja nichts!“ kann nur jemand behaupten, dem die Social Media-Kanäle fremd und/oder unbeliebt sind. Deshalb ist an dieser Stelle Aufklärung nötig: Literaturerleben.de, um das es im Wesentlichen geht, ist ein sehr dynamisches Medium mit wachsendem Zuspruch. Es greift Jahrestage, Aktuelles und Neuentwicklungen in Kultur, Literatur und Politik auf, kombiniert sie mit „Perlen“ aus unserem digitalen Medienarchiv, in dem sich Video- und Audiodateien nicht nur befinden, sondern in dem sie „pulsieren“. Was das mit Günter Grass zu tun hat? In jeder unserer kleinen Produktionen spielt er eine Rolle, überwiegend eine Haupt-, in jedem Fall eine wichtige Rolle. Es macht uns immer wieder staunend, weil es offensichtlich wird: Sein Leben und Wirken, seine Ideen und sein Engagement reichen tief und einflussreich in die unterschiedlichsten Bereiche der Gesellschaft und menschlichen Handelns hinein. In unserem audiovisuellen Archiv sind mehr als 6000 Personen erfasst, die in mal enger, mal lockerer oder flüchtiger Beziehung zu Günter Grass stehen – positiv oder negativ. Aus den vielen möglichen Konstellationen lassen sich sachliche, schöne und schicksalhafte Geschichten erzählen.

„Da passiert ja nichts!“ – das kann gar nicht sein! Natürlich gelingt uns nicht jeder Beitrag so wie wir es uns erhofften. Aber insgesamt erfreuen sich unsere über Youtube verbreiteten Angebote zunehmender Aufmerksamkeit. „Radikaldemokratisch – bis in die Künste hinein“ zum Beispiel, ein kürzerer Antikriegsfilm, den wir unmittelbar nach dem kriegerischen Angriff Russlands auf die Ukraine zeigten, wurde mehr als 11.000 Mal aufgerufen. „Familie Grass zu Besuch bei den Kafkas“, die Erinnerung an eine Ost-West-Freundschaft in Zeiten des Kalten Krieges, zählte sogar 22.500 Aufrufe. Gerade konnten wir die Marke von insgesamt 100.000 Interessierten an Literaturerleben.de überspringen – das betrachten wir – sorry für „Da passiert ja nichts!“ – durchaus als Erfolg. Wir haben dabei sehr wohl auch die Verweildauer im Blick.

Bertolt Brecht und Günter Grass auf der Bühne – das jüngste Video auf Literaturerleben.de

Nun hoffe wir, dass Sie sich frohgemut auf unsere neue Frühlingsproduktion zubewegen. Sie geht am Gründonnerstag, 6. April 2023, auf Literaturerleben.de online. Und wir freuen uns über Ihren Besuch: 

https://literaturerleben.de

Doch, es passiert so einiges. Das Schweizer Rundfunk und Fernsehen (SRF) hat uns freundlicherweise genehmigt, Grass-Aufnahmen aus seinem Bestand in unser Medienarchiv zu integrieren. Dafür sind wir sehr dankbar. Sie sind eine Bereicherung für die Grass-Forschung und  rundfunk-/fernsehhistorisch besonders wertvoll. Hoffnungsvoll blicken wir auch auf unsere Kontakte zum Österreichischen Rundfunk (ORF) und Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF), die uns weiteres Archivmaterial in Aussicht gestellt haben. 

Noch mehr ist passiert. Gemeinsam mit unserem Partner NetAlive konnten wir das Förderprojekt „WissensWandel“ rechtzeitig und zur Zufriedenheit aller Beteiligten abschließen. Das vom Deutschen Bibliotheksverband unterstützte Vorhaben ermöglicht den Nutzerinnen und Nutzern einen völlig neuen Zugang zu den Inhalten unseres Medienarchivs. Anhand interaktiver, graphischer Visualisierungen werden die Verbindungen zwischen den Personen dargestellt und mit Metadaten versehen. Ein dynamischer Graph dient als Schnittstelle für Recherchierende, sich im Grass’schen „Kosmos“ zurechtzufinden und das Medienarchiv „absolut“ zu erforschen. Der Mehrwert der Innovation besteht also darin, dass den Suchenden ein Personengeflecht plastisch vor Augen geführt, nach einem weiteren Klick Hintergrundinformation geliefert und damit – scheinbar beiläufig – Wissen vermittelt wird. 

Solche Fortschritte erregen Aufmerksamkeit: Der Verein für Medieninformation und Mediendokumentation (vfm) hat uns eingeladen, das Archivgeschehen in der Günter Grass Stiftung Bremen auf seiner Frühjahrstagung vom 17. bis 19. April 2023 in Nürnberg zu präsentieren – eine ehrenvolle Aufgabe. Der vfm bildet die Plattform für alle, die sich mit der Aufbereitung, Organisation, Verwaltung, Archivierung oder Verbreitung medialer Inhalte befassen. Seine Mitglieder arbeiten in Presse-, Rundfunk- oder Filmarchiven der Medienunternehmen, in Medienarchiven der Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft oder sind selbstständig.

Der Poet auf Linksaußen-Posten

Günter Grass begeisterte sich für Fußball. In seinem Werk „Mein Jahrhundert“ widmete er drei seiner Geschichten dem runden Leder. „Mein Jahrhundert“ ist Ausgangspunkt einer großen Sommerausstellung, die die Günter Grass Stiftung Bremen in Kooperation mit dem Lübecker Günter Grass-Haus und dem Deutschen Fußballmuseum Dortmund in der Unteren Rathaushalle Bremen zeigen möchte. Sie enthält wertvolle Leihgaben und Originalexponate – wie die Literaturnobelpreis-Urkunde von Grass und seine Aquarelle sowie den Endspielball der Fußball-WM 1954. Hinzu kommen Inszenierungen wie ein alter Schreibtisch, außerdem eine Auswechselbank und eine kleine, hölzerne Gefängniszelle. Grass machte nämlich den zuvor inhaftierten, ehemaligen Kanzleramt-Spion Günter Guillaume zum fiktiven Zeitzeugen des Fußballspiels BRD gegen DDR von 1974. Endstand: 0:1 für den „Klassenfeind“.

ünter Grass besuchte übrigens auch das eine oder andere Heimspiel von Werder Bremen. Darüber wird in der Ausstellung ebenfalls zu berichten sein. Sein Herz hing allerdings an bodenständigen, kleineren Vereinen, deshalb bekannte er sich als Fan des SC Freiburg. Seine Fußballleidenschaft teilte er mit seinem Sohn Bruno, der bis heute für den FC St. Pauli brennt. Bruno Grass war es auch, der den in die Jahre gekommenen Vater damals zu Hause in Wewelsfleth bat, für einen ausgefallenen Spieler in der Seniorenelf des Dorfes einzuspringen. So wurde Günter Grass unverhofft Linksaußen.
„GÜNTER GRASS Mein Fußballjahrhundert“ wird am 30. Juni 2023 um 17.30 Uhr eröffnet. 

Tipps und Termine

— Günter Grass lebt, in der Erinnerung, in seinem Werk und in der Fantasie. Manche suchen das fiktive Gespräch mit ihm, wie die Autorin Carmen-Francesca Banciu. Sie weilte 2021 mit einem Alfred Döblin-Stipendium in Wewelsfleth, im ehemaligen Wohnhaus von Grass. „Plötzlich ist er da. Ungerufen. Unabweisbar. Günter Grass, der Hausherr von einst. Um in ihre Töpfe hineinzuschauen. Während sie, gedankenverloren, in seiner Küche kocht.“ So heißt es im Briefroman „Ilsebill salzt nach“, der im April im Verlag PalmArtPress erscheinen wird. Banciu und Grass schreiben sich Briefe, sie spricht mit

ihm, lässt sich von seinen Zeichnungen inspirieren. Sie sitzt an seinem Schreibtisch, blickt durchs Fenster auf die gegenüberliegenden Gräber und denkt über den Butt und die unsterbliche Ilsebill nach. Und noch vieles mehr … 

—- Von der „Blechtrommel“ (1959) über „Das Treffen in Telgte“ (1979) bis hin zu „Vonne Endlichkait“ (2015) − in der aktualisierten und erweiterten Neuausgabe bespricht Dieter Stolz das literarische Gesamtwerk von Günter Grass. Detailreich analysiert er das Œuvre des Nobelpreisträgers und zeigt auf, dass es sich als gattungsübergreifende Fortsetzungsgeschichte lesen lässt. Von Lyrik, Drama über Prosa bis hin zu autofiktionalen Texten führt Stolz durch Grass’ abgeschlossenes

Lebenswerk. Abgerundet wird seine Quintessenz aus jahrzehntelanger Forschung und Zusammenarbeit mit dem Autor von einem ganz persönlichen Erfahrungsbericht. Lektüresumme und Begegnungsbilanz in einem. Das Buch erscheint im April im dtv Verlag.

—- Zum Schluss noch eine kleine Vorschau auf den Sommer: Das Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg in der Oberpfalz ist im Besitz des Typoskripts einer frühen Fassung des Grass-Romans „Die Blechtrommel“ und zeigt es in einer Dauerausstellung. Im Juli wird der Literaturnobelpreisträger zusätzlich in einer Sonderschau zu erleben sein. Dank der Unterstützung der Günter und Ute Grass Stiftung werden Lithographien, Aquarelle und Grafiken präsentiert. Grass fühlte sich dem Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg, das von Walter Höllerer gegründet wurde, seit seinem Bestehen eng verbunden. Höllerer war es schließlich, der ihn in den 50er-Jahren intensiv förderte und seine Karriere begleitete. Die Ausstellung wird im Rahmen des Literatur-Sommerfestes am 15. Juli 2023 eröffnet. Ein Hinweis für Grass-Fans: Viele der Bilder können erworben werden.