Grass‘ Wörter
„Althochdeutsch zit, mundartlich tid. Es brauchte Zeit, bis aus zeyt die Zeit wurde. Zu meiner, deiner, zu unserer. Schon Hans Sachs spricht vom ‚zeit vertreiben‘. Bei Paul Gerhardt hält ‚gottes zeit ihren schritt‘. Außerdem rast sie, schleicht heran, ist flüchtig. Von er unermeßlichen Zeit zur bemessenen, der Uhrzeit.“
Aus: „Grimms Wörter“ (2010), Steidl Verlag
Verehrte, liebe Literatur-Interessierte,
mit der Zeit gehen – das geflügelte Wort kommt nur auf den ersten Blick leicht und unbeschwert daher. Dabei steckt es voller Kraft und Dynamik; denn wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit, verschwindet also. Das ist in diesen Zeiten großer Veränderungen und Herausforderungen Warnung und Wink zum Handeln zugleich. Wir vom Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen sind uns dessen bewusst. Datenschutz, Urheberrechte und insbesondere die Digitalisierung verlangen nach neuen, zeitgemäßen Lösungen und Überlebensstrategien. Wir arbeiten intensiv an einer Zukunftssicherung. Darüber wird in einem der nächsten Newsletter zu berichten sein.
Die Zeit bleibt stehen – ein wohltuendes Gefühl im Alltag, der sich doch in vielem so beschleunigt hat. Dieser Tage erreichte uns ein handgeschriebener Brief mit frankiertem Briefumschlag. Adressiert „AN HERRN GÜNTER GRASS“, verfasst von einem Ehepaar, das sich als „riesengroße Fans von Dir schon von Anfang an“ bezeichnete. Den lieben Grüßen wurde noch ein herziger Stempel aufgedrückt. Wohl nicht mehr erfüllen lässt sich der Wunsch der beiden nach zwei Autogrammkarten, aber vielleicht kann ein von Grass signiertes Buch ein Trost sein, auch wenn die Unterschrift des vor vier Jahren verstorbenen Schriftstellers schon etwas älter ist.
Zeitlos – Ein eindrucksvolles Möbelstück, die Zeiten und Wechsel überdauernd, steht in Paris. An dem Pult hat Günter Grass vor über 60 Jahren damit begonnen, die „Blechtrommel“ zu schreiben, den Roman, der seinen literarischen Durchbruch brachte. Der Autor wurde, auch als er längst nicht mehr in Frankreich lebte, bekannter und berühmter; das zurückgelassene Stehpult ist im Laufe der Jahre wohl noch schöner geworden. Eine Zustandsbeschreibung finden Sie in diesem Newsletter.
Ich wünsche Ihnen eine Lektüre, die die Zeit vertreibt, ohne zu langweilen.
Horst Monsees
Edles Holz, das die Blechtrommel trug
Als Günter Grass 1960 seine kleine Wohnung in Paris wieder verließ und mit seiner Familie nach Berlin zurückkehrte, blieb ein kleiner Koffer in der Avenue d`Italie stehen – aus welchen Gründen auch immer. Jahre später spürte ihn ein englischer Germanist auf und entdeckte darin das auf 1956 datierte Typoskript von „Die Blechtrommel“. Die erste Fassung des Romans, der den Weltruhm von Grass begründete, befindet sich heute im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg. Ein weiteres Utensil steht 60 Jahre nach dem Umzug des Schriftstellers immer noch im Parterre des zweistöckigen Häuschens: das alte Schreibpult, an dem Grass saß oder stand, seine Reiseschreibmaschine bediente und dort wohl wesentliche Kapitel der „Blechtrommel“ verfasste.
Das Möbelstück hat schon einige Eigentümerwechsel überdauert. Als Günter Grass und seine erste Frau Anna Anfang 1956 das Domizil in Paris bezogen, waren die Zeiten schwierig. „Mittellos, aber unbekümmert“ seien sie nach Frankreich gezogen, erinnerte sich Grass später. Dabei weniger an die Schreibabläufe für seinen Roman, sondern an sein herausforderndes Arbeitsumfeld und Atelier. In einem Essay „Wie Oskar trommeln lernte“ für das Magazin „Stern“ schrieb er von einem feuchten Loch zu ebener Erde. „Gleichzeitig war mein Arbeitsraum Heizkeller für unsere darüberliegende winzige Zweizimmerwohnung. Sobald die Manuskriptarbeit ins Stocken geriet, ging ich aus einem Kellerverschlag des Vorderhauses mit zwei Eimern Koks holen.“ Als „anheimelnd gasig“ empfand er den Geruch von Mauerschwamm. Und: „Rinnende Wände hielten meine Vorstellung in Fluss; die Feuchte des Raumes mag Oskar Matzeraths Witz gefördert haben.“ Für Nicht-„Blechtrommler“: Oskar Matzerath ist Hauptfigur und Ich-Erzähler in dem Roman.
Nun, die Nachbesitzer in der Avenue d`Italie haben das frühere „Loch“ längst trockengelegt und die Wohnung saniert. Nach dem Kunsthistoriker Christian Beutler übernahmen Mechthild und Peter Schneider (Foto oben) das einfache, aber geschmackvoll gestaltete Anwesen im 13. Arrondissement, das man über einen idyllischen Innenhof erreicht. Das Ehepaar aus Heidenheim – sie Kunsthistorikerin, er Augenarzt – weiß das von Grass-DNA veredelte Pult sehr wohl zu schätzen und hat es aufwändig restaurieren lassen. Ein echter, von Geschichten umwobener Blickfang. Man muss sich nicht groß anstrengen, um sich Günter Grass an diesem Pult vorzustellen – wie er seine Unterlage ordnet, um dem Publikum aus einem seiner Werke vorzulesen, mit seiner schnarrenden, klangvollen Stimme, die er ab und zu mit einem Schluck Rotwein ölt. Und das Glas vorsichtig auf das antike Holz sinken lässt …
Studierende tasten sich an Grass heran
Sie hatten vorher noch nie von Günter Grass, seinem Werk und Wirken gehört. Zehn internationale Studierende aus vielen Teilen der Welt und aus verschiedenen Studiengängen an der Jacobs University Bremen hielten dieser Tage ihre Deutschstunde in der Bibliothek der Günter Grass Stiftung Bremen ab. Die Deutschdozentin Dr. Doris Mosbach und die Medienarchivarin der Stiftung, Sonja Wohllaib, planten gemeinsam die Lehreinheit. Schon vor dem Seminar vermittelte Doris Mosbach in ihrem Unterricht Biographisches zu Günter Grass und stellte „Mein Jahrhundert“ vor. Das grafische Werk sowie die Kontroverse um Grass‘ Mitgliedschaft in der Waffen-SS hatten die Studierenden neugierig auf weitere Entdeckungen gemacht.
Bei einer Führung durch das Medienarchiv konnten die Studierenden auch ein historisches Tonbandgerät bestaunen, das früher beim Hörfunk eingesetzt wurde. Das ungewohnte Einfädeln des Tonbands auf die Maschine entwickelte sich zu einer spannenden Herausforderung. Auf einem TV-Screen sichteten die Studierenden schließlich einen „Bücherjournal“-Auszug von 1999 zur Entstehung des Werks „Mein Jahrhundert“ mit zahlreichen Originalzuspielern in Schwarz/Weiß. Nebenbei bekamen sie Einblick in die Präsenz- und Webdatenbank der Günter Grass Stiftung.
Zu guter Letzt hörten die Studierenden via mp3 aus „Mein Jahrhundert“ das Kapitel „1938“, von Günter Grass gelesen. Das Buch in der Hand, konnten sie den Text mit verfolgen. Die kurze Textanalyse des Kapitels warf Fragen zur Reichskristallnacht sowie dem Mauerbau und –fall auf und stimmte die jungen Leute nachdenklich. Das Kapitel schien besonders geeignet zu sein. Bei alledem: Die Bereitschaft, in der Freizeit Literatur zu lesen, war so gut wie nicht vorhanden. Dafür machten die Studierenden vor allem die hohe Arbeitsbelastung im Studium verantwortlich. Und wenn doch Einzelne lesen? Nur in einer digitalen Fassung!
Buchtipp
Das Grundgesetz bildet das Fundament unserer Demokratie und der
freiheitlichen Rechts- und Werteordnung. In diesem Monat feiert es
seinen 70. Geburtstag; am 8. Mai 1949 hatte der Parlamentarische Rat den
Entwurf beschlossen, und am 24. Mai trat das Grundgesetz dann in Kraft.
Es mag in die Jahre gekommen sein, aber auch in einen Zustand der
Anfälligkeit und Schwäche, was gegnerische, ja
verfassungsfeindliche Strömungen anbelangt? Zum Jubiläum des Grundgesetzes hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Politikerin und frühere Bundesjustizministerin, ein eindringliches Plädoyer zum Schutz der Grundrechte vorgelegt: Angst essen Freiheit auf (erschienen bei wbg – Wissenschaftliche Buchgesellschaft in Darmstadt). Angst macht unfrei und trübt die Wahrnehmung, schreibt die Autorin. Angst erleichtere es der Politik, etwa bei Terroranschlägen schärfere Gesetze zur Terrorismusbekämpfung durchzusetzen – und zwar unabhängig von ihrer tatsächlichen Wirkung für die innere Sicherheit. „Angst … lässt Regierungen sich legitimiert fühlen, auch Grundrechte massiv einzuschränken.“ Grundrechte verlangten mutige Verfechter. Sie könnten nur gelebt werden, wenn sie akzeptiert und nicht bekämpft würden. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: „Wir brauchen einen neuen Grundrechtsstolz der Bürgerinnen und Bürger. Wir brauchen Verfassungspatrioten anstelle von Nationalisten.“ Übrigens: Günter Grass hat sich als Verfassungspatriot begriffen, sich aber auch lautstark zu Wort gemeldet, wenn er eine Verletzung des Grundgesetzes vermutete. Mit der deutschen Einheit 1990, die für ihn verordnet war, sah er das als gegeben an. Er kritisierte eine „Ruck-zuck-Einheit über den bloßen Anschlussartikel 23 des Grundgesetzes“. Vorübergehend in einer Konföderation statt in einer vergrößerten Bundesrepublik zu leben und anschließend mit einer neuen Verfassung einen Bund deutscher Länder zu schaffen – so stellte Günter Grass sich den Einigungsprozess vor. Seine Reden dazu sind in einer 1990 erschienenen Textsammlung nachzulesen: Ein Schnäppchen namens DDR – letzte Reden vorm Glockengeläut. |
Alle Fotos: Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen |