Trommelwirbel Oktober 2018

Grass‘ Wörter

„Gestern wird sein, was morgen gewesen ist. Unsere Geschichten von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben.“
Die ersten beiden Sätze aus „Das Treffen in Telgte“ (1979)
Das Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen hat eine neue Geschäftsführung, die gewillt ist, dem vielfältigen Wirken des Namensgebers wieder die volle Aufmerksamkeit und nötige Arbeit zu widmen. Das Werk verdient es, nicht nur der Wissenschaft und professionellen Nutzerinnen und Nutzern, sondern auch einer größeren Öffentlichkeit näher gebracht zu werden. Es gilt, die immense Bedeutung des Sprachkünstlers Grass bewusst zu machen. Dazu soll unser Newsletter, der heute das erste Mal erscheint, beitragen. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist kein zufälliger: Der 16. Oktober ist der Geburtstag von Günter Grass; der 2015 verstorbene Dichter und Denker wäre 91 Jahre alt geworden.
Das Medienarchiv in Bremen sammelt, dokumentiert und pflegt alle erreichbaren Ton- und Filmaufnahmen von, mit und über den Literatur-Nobelpreisträger. Von keinem anderen deutschen Schriftsteller existieren so viele Radio-, Fernseh-, Schallplatten- und CD-Beiträge wie von Grass, der jahrzehntelang selbst der ideale öffentliche Vorleser seiner Werke war. Derzeit ist die Stiftung bemüht, das audiovisuelle Archiv für die digitale Zukunft besser zu rüsten und zu sichern. Dazu soll eine neue, von einem Bremer Startup-Unternehmen entwickelte Suchmaschine beitragen. Diese würde die Archivarbeit optimieren und die Recherchemöglichkeiten um ein Vielfaches erweitern. Noch steht die Stiftung am Anfang der Innovation, muss sie auf Förderungszusagen für die vielversprechende Software warten. In einem der nächsten Newsletter wollen wir über einen hoffentlich guten Fortgang der Umrüstung berichten.

Günter Grass, der Dichter, Bildhauer, Maler, Graphiker und politische Akteur, der Koch, Tänzer und Musiker am Waschbrett – er hinterließ an vielen Plätzen der Welt tiefe Spuren seiner Kunst und seines Könnens. Entsprechend ausgebreitet ist das Netz von Standorten, an denen man sich um sein öffentliches Erbe kümmert. Ob Danzig, Berlin, Lübeck, Göttingen, Bremen oder Sulzbach-Rosenberg, das Grass-Werk wird dezentral erschlossen und geschützt. Folgerichtig oder folgenschwer? Jedenfalls sind in Fachkreisen die Rufe nach Konzentration immer deutlicher hörbar. Am Ende geht es aber nicht um Orte, sondern um die Organisation, die den einzigartigen Vor- und Nachlässen von Günter Grass am besten gerecht und dienlich wird. Grass und seine Schöpfungen, sie bleiben nicht nur unvergessen, sondern geben Anleitungen und Inspirationen für den Blick auf und den Umgang mit der Wirklichkeit gestern, heute und morgen. Zur Aktualität von Günter Grass und seinem Schaffen sei der Artikel von Prof. Per Øhrgaard in diesem Newsletter empfohlen.

In Göttingen wurde gerade im Verbund mit der dortigen Universität eine Treuhandstiftung gegründet, um Grass‘ Vermächtnis, das im Steidl-Verlag lagerte, für kommende Leserinnen und Leser sowie für Forschende zu bewahren. Der renommierte und auf Grass spezialisierte Literaturwissenschaftler Prof. Heinrich Detering kleidete den Vorgang in schöne, lobende Worte: In einer Zeit, in der Digitalisierung und elektronische Medien die Menschen viel Zeit kosteten, entfalte die Buchkunst von Grass den „ganzen Zauber des Analogen“. Dem muss eigentlich nichts hinzugefügt werden. Nur dieses: Dem exzellenten Vorleser Günter Grass ist wie kaum einem anderen Schriftsteller die unverwechselbare Kraft des gesprochenen Wortes eigen gewesen – festgehalten wird sie im Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen.
 
Ich wünsche Ihnen eine anregende und angenehme Lektüre.

Horst Monsees
(Geschäftsführer Medienarchiv Grass Stiftung Bremen)
Foto: Mette Andersen Warum Günter Grass heute lesen?
von Per Øhrgaard
Erstens, weil er einer der größten Schriftsteller des 20. (und eines Teils des 21.) Jahrhunderts ist: Ein Meister der Sprache, fabulierend und genau, traurig und heiter, oder wie er selber einmal schreibt, ”zuchtvoll und entfesselt”. Mit Die Blechtrommel (1959), vielleicht noch mehr mit Katz und Maus (1961) und Hundejahre (1963), schilderte er die Zeit des Dritten Reiches weder heroisch noch dämonisch, sondern in ihrer ganzen schäbigen Alltäglichkeit. Grass gestaltete Geschichte fast immer aus der Perspektive der ”kleinen Leute” – jene, die keine Geschichte machen, sondern Geschichte erleiden, die aber dennoch nicht nur unschuldige Opfer, sondern auch schuldige Täter sind. In Der Butt (1977) entfaltete Günter Grass die Menschheitsgeschichte als eine Geschichte der Ernährung und der Körperlichkeit überhaupt, und in seinen Erinnerungen Beim Häuten der Zwiebel schrieb er von seinen drei ”Hunger”: nach Essen, nach Liebe, nach Kunst.
 
Damit sind nur einige wenige Werke erwähnt, andere zu Unrecht unterschlagen – etwa seine Gedichte, das Novellen-Kabinettstück Das Treffen in Telgte oder der große Roman Ein weites Feld, der viel mehr als nur ein ”Wende-Roman” ist. Das schwedische Nobelkomitee bescheinigte bei der Verleihung des Preises 1999 Grass, ”in munter schwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet” zu haben.
 
Aber Günter Grass sollte man auch als den engagierten Bürger lesen, der er war. Er hatte seine Gründe, sich für die Demokratie zu engagieren und allem Extremismus entgegenzutreten. Er war ein gebranntes Kind, sozialisiert im Dritten Reich und als Heranwachsender unwissend bis gläubig, was er immer wieder thematisierte, auch lange vor seiner Autobiografie, deren Auskunft, dass er mit siebzehn Jahren in eine Waffen-SS-Division gesteckt wurde, ein völlig unproportioniertes Aufsehen erregte. Gerade seine frühen Erfahrungen machten aus Grass einen Zeitgenossen, der stets um Demokratie bemüht war, und der als Bürger seine Stimme erhob, um ”das Selbstverständliche”, wie er es sah, zu sagen. Seine Mitbürger stachelte er immer wieder an, sich selbst zu engagieren statt ihm oder sonstwem die ganze Arbeit zu überlassen. Wer seinen Briefwechsel mit Willy Brandt (2015 herausgegeben) liest, staunt nicht nur über die Detailkenntnisse des Autors, sondern auch über seine hellsichtigen Analysen und oft sehr genauen Voraussagen.
 
”Das Gedicht kennt keine Kompromisse. Wir aber leben von Kompromissen. Wer diese Spannung tätig aushält, ist ein Narr und ändert die Welt,” sagte Günter Grass 1966. Daran hielt er sich damals schon, und daran hat er sich bis ans Lebensende gehalten.
 
Per Øhrgaard übersetzte viele Werke von Günter Grass ins Dänische und schrieb unter anderem die Monografie Günter Grass. Ein deutscher Schriftsteller wird besichtigt (dtv 2007) sowie jüngst das Nachwort zur einbändigen Ausgabe der sogenannten ”Erinnerungstrilogie” Beim Häuten der Zwiebel, Die Box und Grimms Wörter (Steidl 2016). Er gehört dem Vorstand der Günter und Ute Grass Stiftung Lübeck an und ist seit Jahren dem Medienarchiv der Günter Grass Stiftung Bremen zunächst als wissenschaftlicher Leiter, später als wissenschaftlicher Berater verbunden.
Aus dem Medienarchiv Günter Grass las 1990 auf Schloss Dobris bei Prag. Es war eine nachgeholte, die allerletzte Tagung der legendären Gruppe 47. Bereits 1968 hatten die deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein Treffen in der damaligen Tschechoslowakei geplant, das allerdings vom Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts verhindert wurde. Die Gruppe 47 ging aus der sogenannten Trümmerliteratur nach dem Ende des zweiten Weltkriegs hervor. Die Zusammenkünfte galten nicht nur dem Versuch, die Literatur zu erneuern, sondern es ging den Akteuren auch darum, eine  Demokratisierung der Gesellschaft zu fördern.

Den Ausschnitt aus „Totes Holz“, erschienen im Steidl Verlag, finden Sie hier. Quelle: Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg
Ursula Krechel, Autorin
Europa, Deutschland, Hamburg 2018
Foto: Gunter Glücklich

  Einladung zur Lesung mit Ursula Krechel
In seinem Buch „Grimms Wörter“ (2010) befasst sich Günter Grass auch mit Geiz, dem „gehässigsten Laster des Alters“, und dem Erben. Er schreibt: „Mir … gefiel es, aus überschüssigem Geld, allein schon, um im Erbfall die Vielzahl meiner Söhne und Töchter nicht mit Unverdientem zu belasten, Stiftungen, vier an der Zahl, zu finanzieren, darunter eine, die dem immer noch missachteten Volk der Sinti und Roma behilflich sein soll. Der Preis, den die Stiftung verleiht, ist nach einem meiner Lehrer, dem Zeichner und Holzschneider Otto Pankok benannt, der zeitlebens mit Zigeunern umging und nicht nur auf Selbstporträts, auch auf Fotos, zudem in meiner Erinnerung als schöner Greis gelten kann.“
Günter Grass hatte sich mehrfach für die Roma und Sinti eingesetzt, deren Verfolgung und Benachteiligung angeprangert, ihre Vertretung im Europaparlament sowie eine Förderung von Romanes als Unterrichtssprache gefordert. Nach seinem Tod würdigte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma Grass als einen „engen Freund und Förderer“ der Volksgruppe.

Die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin Ursula Krechel („Landgericht“) erzählt in ihrem neuen Roman „Geisterbahn“ den Lebens- und Leidensweg einer deutschen Sinti-Familie während eines Jahrhunderts einschließlich der Zeit des Nazi-Regimes. Das Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen hat Ursula Krechel zu einer Vorlese- und Signierstunde eingeladen. Die Veranstaltung findet statt:

Dienstag, 30. Oktober 2018, 18.30 Uhr, im Haus der Wissenschaft in Bremen.

Der Eintritt ist frei   

Aus dem Medienarchiv

Günter Grass las 1990 auf Schloss Dobris bei Prag. Es war eine nachgeholte, die allerletzte Tagung der legendären Gruppe 47. Bereits 1968 hatten die deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein Treffen in der damaligen Tschechoslowakei geplant, das allerdings vom Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts verhindert wurde. Die Gruppe 47 ging aus der sogenannten Trümmerliteratur nach dem Ende des zweiten Weltkriegs hervor. Die Zusammenkünfte galten nicht nur dem Versuch, die Literatur zu erneuern, sondern es ging den Akteuren auch darum, eine  Demokratisierung der Gesellschaft zu fördern.

Den Ausschnitt aus „Totes Holz“, erschienen im Steidl Verlag, finden Sie hier.


Schatten und Scherenschnitte
Vor ziemlich genau 175 Jahren kam der große Märchenerzähler Hans Christian Andersen zum ersten Mal nach Bremen und besuchte unter anderem die dritte Ausstellung des Kunstvereins in Bremen. Jetzt kommt er wieder – als Dichter und Meister der Scherenschnitte. Unter der Schirmherrschaft der dänischen Prinzessin Benedikte zeigt die Kunsthalle Bremen vom 20. Oktober 2018 bis zum 24. Februar 2019 die Papierarbeiten von Andersen: „Poet mit Feder und Schere“. Aber nicht nur seine Kunstfertigkeiten, sondern auch seine diversen Aufenthalte in der Hansestadt werden in der Ausstellung dokumentiert. Was hat das nun mit Günter Grass zu tun?

Grass hatte zeitlebens eine enge Bindung an Dänemark. Auf der Insel Møn in seinem Ferienhaus arbeitete er an jedem seiner Bücher. 2004 erschien das Lesebuch „Der Schatten: Hans Christian Andersens Märchen – gesehen von Günter Grass“. Darin illustrierte Grass 30 Märchen von Andersen in schwarz-weißen Phantasien – eindrucksvoll und schattenspielartig. „Andersen ist in vielen seiner Märchen versteckt oder vorlaut anwesend. Sein Leid hat sich der Leidensgeschichte des hässlichen Entleins mitgeteilt. Sogar im Märchen ‚Der Gärtner und die Herrschaft‘ hören wir ihn als Bauchredner, der die Kritiker seiner literarischen Werke auf die Schippe nimmt. Und in der langen Erzählung ‚Der Schatten‘ wandelt er sich zur Karikatur seiner selbst: zum Schattenriss, Scherenschnitt, zu einem anderen Peter Schlemihl“, erklärte Grass zu dem großen Märchen-Bilder-Buch, dem er eine liebevolle Widmung voranstellte: „Meinen Kindern und Kindeskindern auf den Tisch gelegt“.

Fotoquelle: Steidl Verlag
TIPP
„Grass in Farbe“ lautet eine Sonderschau im Günter Grass-Haus in Lübeck, die vom 16. Oktober 2018 bis 3. Februar 2019 zu sehen ist. Ausgestellt werden 90 Aquarelle von Günter Grass aus sechs Jahrzehnten sowie Gedichtmanuskripte und zahlreiche Utensilien, mit denen der Künstler seine Werke angefertigt hat. Die Entwicklung der farbigen Arbeiten ist genau zu verfolgen, und das Publikum kann erfahren, inwiefern sich in der Biografie von Grass auch ein Teil der deutschen Kunstgeschichte der Nachkriegsjahre spiegelt.