Bei windigem Wetter
hängt meine Jacke an der Leine.
Sie dünstet aus,
nimmt Abstand von mir
und ist mit leeren Taschen
zeitweilig frei von meinem
Gekrümel.
Aus: „Fundsachen für Nichtleser“ (1997)
Verehrte, liebe Literaturfreunde,
Herbstzeit ist Lesezeit. Das Buch hat es in Zeiten von Corona nicht leicht gehabt. Während des Shutdowns im Frühjahr mussten auch die Buchhandlungen schließen, was zu Einbußen führte, aber auch frische Energien bei Autoren, Verlagen und Händlern freisetzte. Die Pandemie ist längst nicht überwunden, aber das Buch hat sich wieder fest in der Gesellschaft verankert, wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels betont. Welch ein Glück, denn Lesen ist Vergnügen, geistige Nahrung und Spaziergang durch andere Welten – ob reale, vergangene oder fantastische.
Wenn ich diesen Newsletter nicht auf einer Tastatur schreiben müsste, sondern mit einem meiner Lieblingsbleistifte, könnte ich darauf ein Zitat von Sydney Smith entziffern: „Es gibt keine schöneren Möbel als Bücher.“ Und darin dann all die „Wörter auf Abruf“, wie Günter Grass der Bleistiftproduktion zulieferte.
Der Steidl Verlag hat gerade eine neue Werkedition des Literaturnobelpreisträgers herausgebracht. Sie enthält sämtliche von Grass autorisierten Schriften von den Anfängen bis zu dem posthum erschienenen Band „Vonne Endlichkait“. Die gesamten lyrischen, dramatischen, epischen und essayistischen Werke wurden neu gesetzt, die Text noch einmal mit den Erstausgaben verglichen, Orthografie und Zeichensetzung den Standards der vom Autor bevorzugten alten deutschen Rechtschreibung angeglichen und Fehler bis 2015 korrigiert. Professor Harro Zimmermann, der erst kürzlich ins Kuratorium unserer Stiftung gewählt wurde, hat die opulente Ausgabe in der „Frankfurter Rundschau“ vom 15. Oktober 2020 rezensiert. Seinen profunden Artikel können Sie sich hier zu Gemüte führen: https://mcusercontent.com/fae411c88c2818cfbd43d9342/files/9c1a3c95-6393-4e30-bd2d-1a367bbeb0fc/Grass_Edition.pdf Es lohnt sich.
Wenn ich nun den Namen Katja Ebstein erwähne, werden Sie sich womöglich fragen, was die Sängerin und Schauspielerin in einem Newsletter der Günter Grass Stiftung Bremen zu suchen hat. Die Künstlerin besang eben nicht nur Wunder (gibt es immer wieder), sondern machte in früheren Zeiten Wahlkampf insbesondere für Willy Brandt und ist bis heute regelmäßig und engagiert für die Wohltätigkeit unterwegs. Mit Grass tauschte sie Gedanken aus und genoss anschließend die „lustige Tänzerei“ mit ihm. Jetzt hat Katja Ebstein ihre Autobiografie veröffentlicht: „Das ganze Leben ist Begegnung“ – unser aktueller Buchtipp für Sie.
Man liest auch zum Vergnügen; möge Ihnen dieses Journal ein bisschen von diesem Gefühl vermitteln, das Corona gerne mal unter die Räder kommen lässt.
Ihr
Horst Monsees
Buchtipp
Katja Ebstein, die große Persönlichkeit aus der deutschen Kunst- und Kulturszene, erzählt von bedeutenden Begegnungen in ihrem Leben, die sie nachhaltig geprägt haben. Sie beschreibt, wie ihre Eltern ihr Musikalität, Gerechtigkeits- und Freiheitssinn mit auf den Weg gegeben haben und wie Willy Brandt zu ihrem politischen Lehrer wurde. Aber nicht nur Menschen, auch Orte prägen ein Leben. Bei Katja Ebstein ist es die Liebe zur Insel Amrum und zur Weltstadt Berlin.
Nach all ihren Erlebnissen und Begegnungen will sie weder Ikone noch Legende sein: „Ich betrachte mich als individuellen, toleranten Normalbürger mit Haltung und Meinung, konfrontiert mit den Herausforderungen und Aufgaben des Alltags – wie der Rest der arbeitenden Bevölkerung auch.“ Die Autobiografie der Sängerin und Schauspielerin ist bei FISCHER Krüger erschienen, die 250 Seiten kosten 20 Euro.
Demnächst
— „Ein kurzes Erschrecken, die Wahrnehmung: etwas Unglaubliches geschieht.“ Mit diesem Zitat drückte Günter Grass die Erinnerung an den spontanen Kniefall des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos aus. Dieser historische Einschnitt in den Ost-West-Beziehungen, verbunden mit der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages, jährt sich am 7. Dezember 2020 zum 50. Mal. Grass und Siegfried Lenz begleiteten Brandt damals auf der Polen-Reise. Ab 6. Dezember werden wir mit Lesungen und Videos das Ereignis würdigen, auf http://www.literaturerleben.de
— In Kürze wird sich das Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen mit einer neuen Webseite präsentieren – einem virtuellen Dach für alle Aktivitäten der Stiftung und besonders mit einem bedienungsfreundlicheren Zugang zum Medienarchiv.
— Die Stiftung stellt sich auch personell neu auf. Über Veränderungen in Kuratorium, Vorstand, Geschäftsleitung und ein bisschen mehr berichten wir in der nächsten Ausgabe.