Winter-Journal 2024 – Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen
Grass‘ Wörter
In Paris angekommen, setzte … Anna ihre Ballettausbildung fort, und ich legte im Heizungsraum unserer Zweizimmerwohnung Plastiken an, die bald eintrockneten, denn die Arbeit am Prosamanuskript unter wechselnden Titeln – „Der Trommler“, „Der Blechtrommler“, zuletzt „Die Blechtrommel“ – ließ dem Bildhauer keine Zeit.
Aus „Sechs Jahrzehnte“
Liebe Literaturverbundene,
die Vorfreude gehört zum Menschen. Sie verhilft uns zu einer guten Balance im Alltag; vielleicht sogar oder gerade auch in Zeiten von Unruhe, Aufruhr und Zivilisationsbruch. Geburtstage, Hochzeiten, Jubiläen oder Urlaubsreisen gehen immer mit Vorfreuden einher. Auch kulturelle Ereignisse lösen aufmunternde Erwartungen aus. Ich beispielsweise habe mich am Jahresanfang auf das neue Buch von Bodo Kirchhoff gefreut. Inzwischen ist es erschienen, und der Roman Seit er sein Leben mit einem Tier teilt hat mich nicht enttäuscht. Im Gegenteil. Obwohl fiktiv, erkennt man in seinem Protagonisten Schongauer viel Kirchhoff persönlich. Wer einmal einen seiner Schreibkurse am Gardasee besucht hat, erinnert sich gerne an die idyllische Hanglage seiner Villa mit Pool auf einem Olivenhain, die er im Buch als „geducktes Steinhaus“ beschreibt. An die genügsame Vierbeinerin Romy. Oder an die steile, von Mauern beengte Zufahrt, die vor der Haustür endet und für größere Fahrzeuge eigentlich ungeeignet ist. Kein Wunder also, dass jener Schongauer im Roman den uneinsichtigen Autofahrern, die auch noch ein Wendemanöver wagen müssen, schon mal mit bewaffnetem Zorn entgegentritt. Die gestrandete Wohnmobil-Fahrerin Frida allerdings bricht seinen Widerstand. Aber lesen Sie selbst die neue, Kirchhoff-typische Beziehungsgeschichte diesmal von zwei Frauen, davon eine 24 Jahre jung, und einem 75-jährigen Mann mit Hündin. Wie sagt Kirchhoff: Man könne am besten über das schreiben, was einem schon einmal widerfahren ist.
Kirchhoff in allen Ehren, ich werde auch 2024 wie in den Jahren zuvor hin und wieder die Grass’sche Die Blechtrommel zur Hand nehmen, die nun 65 Jahre alt wird, ein Buch, das für mich längst noch nicht ausgelesen ist, ein großes Panorama der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Aber zurück zur Vorfreude: Gespannt bin ich auf das neue Werk von Michael Köhlmeier, den ich vor allem auch als Märchenerzähler schätze. „Das Märchen erklärt nichts. Es ist. Wir sind verführt.“, so der österreichische Schriftsteller. Demnächst erscheint von ihm Das Philosophenschiff, auf dem Bolschewiken um 1920 von St. Petersburg aus missliebige Intellektuelle in die Verbannung schicken. Lenin etwa auch? Diese Lektüre wird nicht märchenhaft sein, aber verspricht bei hoher Erzählkunst packend zu werden.
„Es gibt – Gott sei Dank – Schriftsteller, wenn es auch nur wenige sind, die wie Kafka in einer Stube sitzend, eine Welt in sich haben und ihr Ausdruck geben“, sprach einst Günter Grass. Nichts zu lachen, meinen Sie, wenn Sie an Franz Kafka denken? Gewiss, Texte von ihm sind von Schwermut getragen, schaurig, aber auch schön, modern und ständig neu zu entdecken. Das Kafka-Jahr 2024 – zu seinem 100. Todestag am 3. Juni – bietet viele Anlässe, sich mit dem großen Dichter zu beschäftigen. Gerade ist eine Comic-Biografie über ihn erschienen: Komplett Kafka von Nicolas Mahler – komisch und eindrucksvoll illustriert. Entstanden ist ein minimalistischer Kafka aus meisterhaft geführter Feder. Übrigens war Kafka selbst ein leidenschaftlicher Zeichner von Figürlichem, mal realistisch, mal fantastisch, mal unheimlich. Kafka wollte angeblich die Zeichnungen nach seinem Tod verbrannt wissen; das ist glücklicherweise nicht passiert.
Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach plant für 2024 ein Ausstellungs- und Forschungsprogramm unter dem Titel Kafkas Echo. Im Mittelpunkt wird die bisher umfangreichste Ausstellung zu Kafka stehen, mit zahlreichen Original-Manuskripten sowie erstmals auch mit Dokumenten aus der Sammlung des Kafka-Forschers Hartmut Binder, die das Literaturarchiv als Vorlass betreut. Die Eröffnung soll am 12. Mai sein. Ich werde den Ritt quer durch die Republik nicht scheuen und mich beizeiten auf den Weg von Bremen an den Neckar machen. Übrigens: Es gibt im deutschsprachigen Raum kaum eine namhafte Bühne, die Stücke von Franz Kafka nicht auf dem Spielplan führt, darunter einige vielversprechende Neuinszenierungen: Das Urteil, Das Schloss, Die Verwandlung oder Die acht Oktavhefte – von Hamburg bis München, von Ulm bis Wolfsburg. Im kommenden Frühjahr schließlich wollen uns die Fernsehanstalten ARD und ORF filmisch an Kafkas Leben heranführen. Eine sechsteilige Serie wird seine Familienbeziehungen erzählen, sein schwieriges Verhältnis zum Vater, seine Liebesbeziehung mit Felice Bauer und seine enge Freundschaft mit Max Brod.
Das sind also meine drei großen K’s, die mich in der ersten Jahreshälfte beschäftigen sollen, drei männliche K’s gewiss, meiner subjektiven Auswahl geschuldet. Ja, es warten auch großartige Literatinnen auf Beachtung, die 2024 mit interessanten Neuerscheinungen auf den Markt kommen. Ich denke an Caroline Wahl, die nach ihren sehr erfolgreichen 22 Bahnen demnächst ihren neuen Roman Windstärke 17 vorlegt. Oder die britische Autorin Jane Gardam, die uns Gute Ratschläge präsentiert – nicht für 2024, sondern aus der postviktorianischen Gesellschaft mit ihrer schon sprichwörtlichen Doppelmoral. Die Vorankündigungen klingen nach Boshaftigkeit und einer kräftigen Portion britischem Humor.
Worauf Sie sich bald freuen können, lesen Sie nach den folgenden Bildern.
Wir mischen uns ein!
ank der großzügigen Förderung des Deutsch-Französischen Bürgerfonds kann die Günter Grass Stiftung Bremen einen besonderen Vorlese- und Diskussionsnachmittag am 26. Januar um 15.00 Uhr im EuropaPunktBremen anbieten: Wir mischen uns ein – über alle Grenzen hinweg! Die Europa- und Kulturpolitikerin Helga Trüpel und der Schriftsteller Robert Menasse werden über Literatur und Engagement im Zeichen der deutsch-französischen Freundschaft und Geschichte diskutieren. Die Schauspielerin Ulrike Knospe (Foto unten) liest Passagen aus „Die Blechtrommel“ vor. Der 1959 erschienene Roman von Günter Grass ist im Wesentlichen in der französischen Hauptstadt in einem Hinterhof der Avenue D’Italie entstanden. Der österreichische Autor Menasse wird aus bekannten und neuen Werken von sich lesen. Die Moderation übernimmt unser Wissenschaftlicher Leiter Dieter Stolz. Der besondere Charakter der Veranstaltung ergibt sich aus den handelnden Personen, aber auch aus der Tatsache, dass wir im Juni 2024 zur Europawahl aufgerufen sind – und damit zu einem Ja für die Europäische Gemeinschaft und die Demokratie. Deutsch-französische Projekte und Programme können Brücken schlagen – zum jeweiligen Nachbarn und zu Europa.
Günter Grass war ein Multitalent in der Kultur und ein politisch engagierter Bürger, der auch über die Grenzen schaute. Den Europa-Gedanken trug er in sich – und die Überzeugung von einem Bündnis der Vielfalt und Regionen. Vor 25 Jahren wurde Grass mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, und seine weltberühmte „Blechtrommel“ feiert in diesem Jahr 65. Geburtstag. Lauter gute Gründe, uns zu besuchen. Der Eintritt ist frei
Gefördert durch:
Zu guter Letzt
Im frischen Jahr 2024 lohnt sich noch ein Blick in die frühe Vergangenheit. Das vergangene Jahr ist für die Günter Grass Stiftung Bremen wenn nicht zur Freude, so doch zur Zufriedenheit verlaufen. In Teilen wurden wir von Aufbruchstimmung getragen, insbesondere was die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und den Zuspruch aus Archiv- und Kultureinrichtungen anbelangt. Wir spürten das beispielsweise auf der Frühjahrstagung des Vereins für Medieninformation und Mediendokumentation (vfm) in Nürnberg. Vor 300 Archivar:innen, insbesondere der Rundfunkanstalten, und Bibliothekar:innen stellten wir unser WissensWandel-Förderprojekt vor. Die grafische Visualisierung von Personen im Kosmos Grass erregte große, positive Aufmerksamkeit. Von der IASA-Ländergruppe Deutschland/Schweiz wurde die Grass-Stiftung ebenfalls gebeten, im Rahmen ihrer Jahrestagung in Berlin das WissensWandel-Projekt zu präsentieren. Dabei konnten wir bereits eine aktualisierte Version vorstellen, in der eine Normdaten-Anbindung sowie eine neue Schnittstelle für Portraits der vernetzten Personen umgesetzt wird. Die grafische Verknüpfung von Personen in unserem Medienarchiv sorgt für Aha-Effekte und eine Neugier, die sicher nicht nur mich begeistert.
Wir investieren vermehrt in Social Media- und Online-Aktivitäten. Wir sind auf Instagram aktiv, die Plattform Literaturerleben.de erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Vier neue Videos konnten wir 2023 produzieren und veröffentlichen. Zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht erschien „… Vorhang zu und alle Fragen offen“. Es folgten die Beiträge „Mit Günter Grass durch den Frühling“, „Ball, Bewegung & Belletristik“ und schließlich eine Lesung aus der Grass-Erzählung „Das Treffen in Telgte“ mit Bezug zu 375 Jahre Westfälischer Friede. Literaturerleben.de verzeichnet mittlerweile 200 Abonnenten und über 125.000 Besucher:innen.
Im Sommer lief die multimediale Ausstellung „Mein Fußballjahrhundert“ in der Unteren Rathaushalle Bremen. Sie fand in Kooperation mit dem Günter Grass-Haus in Lübeck und dem Deutschen Fußballmuseum in Dortmund statt. Was Ausstellungs- und Veranstaltungspläne anbelangt, haben wir noch so einiges im Köcher. Aber mehr verraten wir an dieser Stelle nicht.
Liebe Freunde und Freundinnen der Literatur, ich bedanke mich an dieser Stelle sehr für Ihre Begleitung durch die audiovisuelle Welt des Günter Grass und den wachsenden Zuspruch, den gerade unser Medienarchiv erfährt. Es gibt aber noch viel zu tun – und damit immer wieder Neues zu entdecken. Bleiben Sie der Günter Grass Stiftung Bremen gewogen.
Ihr
Horst Monsees