Trommelwirbel September 2019

Grass‘ Wörter

WESHALB ich auf Reisen ging: von Deutschland nach Deutschland. Ich wollte sehen, was sich änderte, und sah, mit welcher Eile der Westen den Osten enteignete. In Reden, die wenig Gehör fanden, empörte ich mich. … Sind denn umfassende Einheit, größere Staatsfläche, geballte Wirtschaftskraft ein erstrebenswerter Zuwachs?

Aus: „Grimms Wörter“ (2010), Steidl Verlag 

Verehrte, liebe Literatur-Interessierte, 

„Er ist das, immer noch er“ – so endet die „Wegzehrung“, eines der späten Gedichte von Günter Grass. Ja, auch viereinhalb Jahre nach seinem Tod ist der große deutsche Künstler da, wieder da in diesem Literatur- Theater- und Kulturherbst. Gerade hat der Verlag Kiepenheuer & Witsch „Das Duell“ herausgebracht, ein Buch von Volker Weidermann, das die Verbindungen und Entfremdungen zwischen Grass und dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki zum Thema macht. Eine „Zwangsehe“ nannte Günter Grass die etwas absonderliche Beziehung, die zum Ende beider Leben hin fast noch mit einer versöhnlichen Geste der Umarmung geendet hätte, aber eben nur beinahe. 

Bei Steidl in Göttingen wird demnächst „Ein weites Feld“ neu verlegt. In dem erstmals 1995 veröffentlichten Roman verarbeitet Günter Grass die deutsche Vereinigung auf literarische Weise. Gleichzeitig denkt er darin über das Werk von Theodor Fontane nach, auf dessen „Effi Briest“ der Titel des Grass-Buchs zurückgeht. Insofern bedeutet „Ein weites Feld“ auch ein Stück deutscher Geschichte von der Revolution 1848 bis zur deutschen Wiedervereinigung. Für die Neuausgabe schrieb der Schriftsteller Daniel Kehlmann das Nachwort. 20 Jahre nach der Vergabe des Literaturnobelpreises an Grass darf man „Ein weites Feld“ als angemessenes und gelungenes Jubiläumsbuch bezeichnen, das vor allem auch von seiner Aktualität nichts verloren hat. 
Kehlmann und Grass – die beiden finden derzeit auch im Günter Grass-Haus in Lübeck zueinander, in der Welt des Barocks. Im Zentrum stehen die Erzählung „Das Treffen von Telgte“ von Grass und der Roman „Tyll“ von Kehlmann. Beide Werke sind in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts angesiedelt, als in Europa der Krieg um Glaube und Macht wütete. Die beeindruckende Ausstellung gleicht einem „Ritt durch die Jahrhunderte“; ihn mitzuerleben, ist bis zum 3. Februar 2020 möglich und dringend zu empfehlen.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen. Beginnen Sie mit dem Beitrag unseres Vorstandsmitglieds Jörg-Dieter Kogel über die stimmliche Eleganz von Günter Grass. 

Horst Monsees 

Ein Virtuose der Vorlesekunst
von Jörg-Dieter Kogel  

Jörg-Dieter Kogel begleitete Günter Grass auch auf Reisen – hier in Kalkutta

Auch als Vorleser war Günter Grass ein Phänomen. Ich erinnere mich gut an jenen Tag im Sommer 2002, an dem er in den Kulissen der römischen Basilica Massenzio am Rande des Forum Romanum aus der drei Jahre zuvor erschienenen Erzählsammlung „Mein Jahrhundert“ vortrug. Der Nobelpreisträger war wenige Monate vor seinem 75. Geburtstag nach Rom gereist, um der „Casa di Goethe“ mit eigenen Zeichnungen in einer Ausstellung zum fünfjährigen Bestehen zu gratulieren. In die hoch aufragenden Gewölberuinen war eigens eine Bühne gezimmert worden, von der aus sich der Blick gleichermaßen richten ließ auf Kolosseum und Palatin, den legendären Gründungsort der Stadt, auf dem Kaiser Augustus einst seine Residenz hatte erbauen lassen. Auf zwei überlebensgroße Leinwände wurde das Fernsehbild übertragen, so dass sich auch in den hinteren Rängen jedermann ein Bild vom Grass-Auftritt machen konnte.
Die Wahl des Ortes und sein Ambiente verfehlten ihre Wirkung nicht, weder auf den Vortragenden noch auf die staunenden Zuhörer. Beinahe spielend erfüllte der »Dichter, den jeder kennt« an jenem römischen Abend dieses sonst so tote Trümmerfeld aus Relikten eines untergegangenen Imperiums mit sinnlicher Präsenz. Das Publikum dankte es ihm mit stehenden Ovationen.
Nach Gründen für den Glücksfall in Rom muss nicht lange gesucht werden. Ein Triumph für einen Günter Grass auf dem Höhepunkt seiner internationalen Popularität, gefeiert und geradezu liebevoll verehrt auch von seinen ausländischen Lesern, respektvoll von kenntnisreichen Medien doppelseitig in den Gazetten nach der Literatur und den Weltläufen befragt, ausführlich vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen gewürdigt und schließlich bestaunt von einer literarischen Öffentlichkeit, die geradezu hymnisch gestimmt war. Nichts trübte damals den Erfolg. Die Turbulenzen um die vom Autor in seinem Erinnerungsbuch Beim Häuten der Zwiebel (2006) öffentlich gemachte Rekrutierung des siebzehnjährigen Grass in die Division »Jörg von Frundsberg« der Waffen-SS waren noch in weiter Ferne.
Doch im Grunde passierte das, was ich in Rom miterleben durfte, überall auf der Welt; immer wenn ich Grass in den letzten zwanzig Jahren als Bremer Radioredakteur begleitete, schlug er die Zuhörer in seinen Bann: ob in St. Petersburg oder in Seoul, im jemenitischen Sanaa, in seiner Geburtsstadt Danzig oder im heimatlich gewordenen Lübeck. Dass Günter Grass seit dem Welterfolg der Blechtrommel rund um den Globus als literarischer Markenartikel und als Repräsentant deutscher Nachkriegsliteratur schlechthin gehandelt wurde, hat man ihm früh attestiert und diese Beobachtung trägt seit Jahrzehnten Gemeinplatzcharakter.
»Ich freue mich aufs Lesen«, dieses Geständnis im Deutschen Theater Göttingen, gleich zu Beginn der kompletten Aufzeichnung von Mein Jahrhundert für den Hörfunk und das Fernsehen der ARD durch Radio Bremen war kein bisschen kokett gemeint. Grass liebte den Akt des Lesens tatsächlich. Seine Texte gewinnen durch den eigenen Vortrag noch an Qualität. Mit scheinbar nicht nachlassender Energie gelingt es ihm mit seiner Stimme, die Werke in den Köpfen seiner Zuhörer neu entstehen zu lassen und noch das widerspenstigste Publikum mit Wortlust und Sprachwut in den Sog seiner Erzählung zu ziehen. Worte verwandeln sich bei ihm in Bilder, die seinen Hörern plastisch vor Augen stehen.
Dem Kritiker Eckhard Fuhr verdanken wir den schönen Satz: »Nur ein von Grass gelesener Grass ist ein echter Grass.«10 Seiner Begründung ist abschließend nichts hinzuzufügen: »Grass zieht als Sprecher nicht die große Schau ab, sondern erzielt seine Wirkung durch leises, nuancenreiches Modulieren. In seinem Sprachfluss wird der sperrige Text geschmeidig und zugänglich, wie wenn er, befreit aus dem Gatter der Schrift, in der Mündlichkeit die ihm gemäße Lebensform gefunden hätte. All das schwingt mit, wenn er seine Texte zum Klingen bringt.« 

Individualisten in oberfränkischer Idylle 

Von Bremen nach Hannover, umsteigen in den ICE nach Nürnberg, im DB Regio bis Bayreuth, dann über eine Stunde Fahrt durch die Fränkische Schweiz – in einem Linienbus, der fast leer ist. Endlich am Ziel, aber die Reise in die Provinz hat sich gelohnt. Wie mögen vor 50 Jahren die aufstrebenden Nachkriegsautoren die lange Strecke zu ihrem Treffen bewältigt haben? Waischenfeld, ein Luftkurort, am idyllischen Wiesent-Fluss gelegen. Hier wurde vor einem Jahr ein von Geschichten, Gezanke und Gerüchten umwobener Literaturweg fertiggestellt. Er ist der Gruppe 47 gewidmet.
Sie galt als bedeutendster Literaturkreis der jungen Bundesrepublik. Namen wie Günter Grass, Heinrich Böll, Martin Walser, Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger sind untrennbar mit ihr verbunden. Die Gruppe machte sie zu Berühmtheiten und umgekehrt begründeten sie – Intellektuelle ebenso wie Individualisten – den Ruhm der Vereinigung. 47-Begründer war der Schriftsteller Hans Werner Richter. Der Gruppe ging es unmittelbar nach Kriegsende im Bewusstsein des „Nie wieder!“ um einen demokratischen Neuanfang in der Gesellschaft, der Politik und der Kommunikation. So der Anspruch. Der Lektor und Literaturwissenschaftler Reinhard Baumgart, der auch zu den Text- und Vorleseturnieren eingeladen wurde, schrieb in seinen Erinnerungen „Damals“: „Alle diese solidarischen Freunde waren eben von Berufs wegen Solitäre und Konkurrenten, eigensinnige literarischen Monaden, nur politisch vage verbunden durch ein scharfes und doch diffuses Unbehagen in der Adenauerschen Republik, das über eine Bandbreite von liberal bis sozialistisch changierte und im Kern sozialdemokratisch blieb.“

1967 fand in der Pulvermühle von Waischenfeld die letzte echte, offizielle Tagung statt. Eine weitere war geplant, 1968 auf Schloss Dobris bei Prag. Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes verhinderte sie. Während die Pulvermühle heute still ruht – es wird hier noch gewohnt, aber ohne Gastronomie immer seltener gefeiert – ging es 1967 im geschlossenen Kreis der 120 versammelten Autoren, Verleger und Kritiker hoch her. Streitigkeiten und Spaltungsversuche zwischen älteren und jüngeren Gruppenmitgliedern wurden längst offen ausgetragen. Und jetzt störten auch noch „Außenseiter“. Erlanger Studenten des SDS drangen in die ländliche Abgeschiedenheit vor und attackierten mit Luftballons und Plakaten die „Dichter-Greise“ und „Papiertiger“. Die Literaten spürten plötzlich hautnah die Anfänge der außerparlamentarischen Opposition in jenem Jahr, als der Student Benno Ohnesorg während einer Demonstration von einem Polizisten erschossen wird. Ihre Reaktionen auf die Proteste, die vor allem im Boykottaufruf gegen die Springer-Presse bestanden, konnten unterschiedlicher nicht sein – wie erwartet. Gleichwohl gelang es am Ende einer Mehrheit, eine Resolution für Meinungsfreiheit und gegen Pressekonzentration zu verabschieden.
Gruppe 47 – ihre Anfänge, der Aufstieg, ihre Protagonisten, der Zerfall und ihr Vermächtnis werden auf dem zwei Kilometer langen Natur-Literaturpfad eindrucksvoll dargestellt. Er lädt ein zum Verweilen, Nachdenken, Verstehen – und Genießen. Die vielen Sitz- und Rastgelegenheiten machen auch die Brotzeit zu einem Erlebnis. Im Gästebuch der Pulvermühle hatte sich Günter Grass seinerzeit nicht nur, aber eben ausdrücklich für die Knödel bedankt.

Am Ende des Gruppe 47-Erinnerungsweges steht die Pulvermühle – ein Stück Nostalgie wie das Blatt aus ihrem Gästebuch

Buchtipp

Der Steidl Verlag bringt demnächst die Neuauflage EIN WEITES FELD heraus. In der Ankündigung heißt es: „Berlin 1989, Wendezeit. An der durchlässig gewordenen Mauer entlang gehen zwei alte Männer, groß und hager der eine, klein und gedrungen der andere. Ein ungleiches, ein komisches Paar: der Bürobote Theo Wuttke, genannt »Fonty«, und sein »Tagundnachtschatten« Hoftaller, der ewige Spitzel.

Beide leben Vorgängern nach, beiden ist Vergangenheit so nahe und gegenwärtig wie die sich überstürzenden Tagesereignisse – während eine junge Französin auf ihre bezaubernde Art ganz neue Zukunftsperspektiven zu eröffnen scheint …“ Der Werk wurde gefeiert und verflucht. Letzteres vom Kritiker Marcel Reich-Ranicki, der es als völlig missraten bewertete. Ein tief betroffenen Grass reagierte später und schriftlich darauf: „Das Magazin ‚Der Spiegel‘ zeigte auf seiner Titelseite einen als namhafte Person erkennbaren Wüterich, der meinen Wälzer – immerhin 800 Seiten stark – mit deutlich zur Schau getragenem Vernichtungswillen zerriss. Welch ein barbarischer Kraftakt! Doch hat der Roman die Anstrengung des Eifers überlebt. Die Leser in Ost und West ließen sich nicht beirren.“