Trommelwirbel September 2022

Herbst-Journal 2022 – Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen

Grass‘ Wörter

Die ersten Prosa-Versuche, die ich machte, das war ein Salat aus Kafka und Ringelnatz mit sehr viel Metaphern – die eine trat der anderen auf den Schwanz. 

1962 in einem Interview

Verehrte, liebe Literaturfreunde, 

„Wieder einmal war den Poeten nichts gewisser als ihre Ohnmacht und ihre mangelnde Kenntnis der politischen Kräfte. Denn als nun (wider Erwarten) der alte Weckherlin zur Rede bereit stand, sprach jemand zu ihnen, der sich als einziger ihrer Versammlung politisch in Kenntnis gesetzt, am Kräftespiel beteiligt, Macht gekostet, die Gewichte ein wenig verschoben und sich dabei verbraucht hatte.“ Diese Sätze stammen aus der 1979 vollendeten Erzählung „Das Treffen in Teltge“ von Günter Grass. Darin verlegt er verschlüsselt die legendären Sitzungen der Gruppe 47 ins Barockzeitalter. Ein ausgezeichnetes Buch, das man gerne auf Wiedervorlage nimmt. Und die wahre Geschichte der Gruppe 47 – auch auf Wiedervorlage?

Anfang September vor 75 Jahren versammelte sich zum ersten Mal die literarische Gruppe 47 auf dem Gutshof der Kunsthistorikerin und Fotografin Ilse Schneider-Lengyels am Bannwaldsee bei Füssen. Die Wahrnehmung besonderer Jahrestage mag dem Zufallsprinzip unterliegen. Während der 70. Jahrestag der Dichter-Vereinigung – ihr gehörten nur eine Handvoll Dichterinnen an – in den Medien noch breit gewürdigt wurde, verblasst nun das öffentliche Interesse. Die Gruppe 47 – wohl ein unzeitgemäßes Relikt aus einer Nachkriegsvergangenheit, derer es sich nicht mehr zu erinnern lohnt. Da kann es eher reizvoll sein, sich das unrühmliche Ende, den Zerfall der Gruppe vor 55 Jahren ins Gedächtnis zu rufen. Die Auflösung geschah vom 5. bis 8. Oktober 1967 im Gasthaus „Pulvermühle“ im oberfränkischen Waischenfeld. „Wir machen Schluss“, waren damals die Worte des Gründers Hans Werner Richter nach turbulenten Begegnungen und Sitzungen. Die Rituale und rigiden Abläufe in den Treffen – keine Replik der Vorlesenden auf Kritiken aus dem Publikum erlaubt, keine Grundsatzdebatten möglich – sind heute nur schwer nachzuvollziehen. Dass Exilautoren kaum Gehör fanden und Erinnerungspolitik noch nicht auf die Tagesordnung kam, stieß zunehmend auf Unzufriedenheit. 

Bereits 1966, als sich die Schriftsteller einmal nicht in der westdeutschen Provinz verschanzten, sondern ins amerikanische Princeton tourten, hatte es im Gebälk der Gruppe 47 kräftig zu knirschen begonnen. Einzelne Teilnehmer verweigerten sich der strikt verordneten gesellschaftspolitischen Enthaltsamkeit, mochten nicht über Prosatext, falsche Konjunktive und Partizipalkonstruktionen streiten; sie wollten vor Ort lautstark gegen den Vietnam-Krieg der USA demonstrieren. Ein Verstoß gegen die (ungeschriebenen) Regeln; eine Ansage, die die Gruppe spaltete! Die Tagung in Princeton läutete ihr Ende ein, das ein Jahr später in der „Pulvermühle“ besiegelt wurde. 

Ja, Anna Grass hatte ihren Ehemann nach Waischenfeld begleitet. Sie war auch bei anderen Zusammenkünften dabei gewesen. Besonders erinnert sie sich an Princeton und die dortige Rebellion, die vor allem der junge Peter Handke anzettelte. Friedrich Christian Delius hat das Ungeheuerliche in seiner Biografie „Als die Bücher noch geholfen haben“ erzählt: „Wieder eine Überraschung, als er am Nachmittag des letzten Lesetags … als Erster aufstand … und zu sprechen anfing. Er sagte nichts zu dem vorgelesenen Text … er warf Reizwörter in die allgemeine Müdigkeit und Lustlosigkeit, Wörter wie läppisch, unschöpferisch, billig und Beschreibungsimpotenz. Die Zuhörer erschraken, solches Abfertigungsvokabular war neu. … Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf den jungen Mann, der nun richtig in Fahrt kam, … die ganze gegenwärtige deutsche Prosa läppisch und idiotisch nannte, kein Autor habe mehr schöpferische Potenz für irgendeine Literatur, rief er laut, die Gestik der Sprache sei völlig öde und läppisch.“ 

Anna Grass saß in unmittelbarer Nähe von Handke; sie fühlte die vielen Blicke auch auf sich gerichtet: „Ich hatte plötzlich den Eindruck, als wollte man mich für das Gesagte mitverantwortlich machen.“ Anna Grass gehörte zum Kreis der Ehefrauen der Gruppenmitglieder, die von Anfang an mit eingeladen wurden. Ihnen war selbstverständlich nur eine passive Rolle zugedacht, die die Privatheit der Treffen nach den Torturen im Lesesaal unterstreichen sollte. Ehefrauen als Anhängsel – für Hans Werner Richter eigentlich ein lästiges. Wiebke Lundius zitiert ihn in ihrem Buch „Die Frauen in der Gruppe 47“ zur Tagung in Berlin 1962: „Ich habe einen ganzen Stoß Ehefrauen ausgeladen, weil sie mich bei den Lesungen stören. Sie setzen sich immer ganz vorn hin und stören mich mit ihren gekreuzten Butterbeinen in meinem Halbschlaf.“ Übrigens: „Die Position des begleitenden Ehemannes war entsprechend der damaligen geschlechtsspezifischen Konventionen nicht vorgesehen.“, stellt Wiebke Lundius fest. Das erzürnte zumindest Gabriele Wohmann, die in ihrem literarischen Schaffen von ihrem Ehemann massiv unterstützt wurde und der seine eigene Berufstätigkeit reduzierte. Und die Autorinnen, die ihre Texte vorstellten – sofern sie sie nicht lieber von einem Kollegen vortragen ließen? Sie waren der rein männlichen Sicht auf ihre Literatur und dem männlichen Habitus ausgesetzt, vielmehr ausgeliefert. Das veranschaulicht der folgende Mitschnitt einer Lesung von Gisela Elsner 1963. 

Gruppe 47 – eine bizarre, zu vernachlässigende Episode? Sie (beziehungsweise er, weil männlich?) war fester Bestandteil des bundesdeutschen Literaturbetriebs geworden; ihr gehörten viele der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts an und sie ebnete häufig den Weg in eine Berufsliteratenschaft. Gewiss, die Gruppe 47 diente als Marktplatz der Eitelkeiten, funktionierte aber auch, spätestens mit der Teilnahme von Kritikern und Verlegern, wie eine Karrierebörse. Und sie verlieh der Gattung Literatur im deutschsprachigen Raum kollektives Gewicht. Bleiben wir einen letzten Augenblick bei Günter Grass und dem „Treffen in Telgte“. Dort verewigte er „zwar Ohnmächtige, aber doch der Unsterblichkeit verdingte Poeten.“

Ende einer wundervollen Ausstellung

Die Bilanz ist eine glänzende: Über 300 Menschen täglich besuchten vom 4. bis 28. August 2022 die Bremer Ausstellung „ANNA GRASS Aquarelle“. Insgesamt strömten rund 7500 Frauen, Männer und Kinder in die Untere Rathaushalle, darunter die achtjährige Lena, die die Bilder „schön“ fand, oder die 101-jährige Anneliese Mehnen aus Walle, die gleich zweimal vorbeikam und sich an den Flusslandschaften in Brandenburg erfreute. Voll des Lobes waren die Eintragungen im Gästebuch. „Aufgeräumte Bilder, klug gehängt, sparsam kommentiert! Bremen ist schön …“, schrieb Charlotte aus Findorff. „Manches lässt mich an Edward Hopper denken“, meinte Jörn. Und Beate: „Inspirierendes Frauenleben – kreativ und mutig!“ Schließlich dieser Kommentar: „Sehr stilsicher: minimalistisch und fokussiert, farblich dezent und stimmig!“

Zu einem Höhepunkt wurde die Midissage am 21. August, an der Anna Grass und viele Familienmitglieder persönlich teilnahmen. Sie konnten sich davon überzeugen, wie passend Halle und Kunst gemeinsam wirken: Jedem Bild wurde viel Raum gegeben – Raum sich zu entfalten. Jedes einzelne Werk ein Erlebnis. Bei den Besuchern gab es dazu den Nebeneffekt, dass sie Abstand voneinander hielten und gleichzeitig sich in Ruhe auf die Aquarelle einlassen konnten.

Bei einem Glas Wein aus dem Bremer Ratskeller ließen sich Anna Grass und Familie von der Stiftungsleitung die Absicht hinter der Ausstellung erläutern: „Anna Grass war Ehefrau, ja, ist Mutter und Oma, ja, aber sie ist nicht die Frau an seiner Seite, sondern eine eigenständige Persönlichkeit mit vielen Talenten. Deshalb zeigen wir Anna Grass als Malerin – hauptsächlich – aber auch als ausgebildete Tänzerin, als Autorin und Zeitzeugin – der Günter Grass ‚Die Blechtrommel‘ gewidmet hat. Auf die Kunst und Person der Anna Grass öffentlich aufmerksam zu machen, war unseres Erachtens überfällig. Und die Besucherinnen und Besucher, mit denen wir ins Gespräch kommen, sind sehr dankbar dafür. Übrigens: Ein bisschen Winzerin in der Schweiz ist Anna Grass auch noch.“

Tipps und Termine 

—- Günter Grass war ein vielseitig begabter und interessierter Mensch; der Künstler und Intellektuelle hat ein vielfältiges Werk hinterlassen. Eine großartige Ausstellung im Schloss Elisabethenburg in Meiningen gewährt einen Einblick in den Facettenreichtum des Literaturnobelpreisträgers. Und das mit Hilfe von 130 präsentierten Objekten. Neben handgeschriebenen Original-Manuskripten und Zeichnungen sind Aquarelle, Grafiken und Skulpturen aus der Werkstatt

von Günter Grass zu sehen. Noch bis zum 9. Oktober 2022 läuft die Gemeinschaftsausstellung mit dem Günter Grass-Haus Lübeck und ist dienstags bis sonntags geöffnet. Wer genügend Zeit mit nach Meiningen bringt, sollte sich noch einen Gang durch das Literaturmuseum vor Ort und eine Genuss-Pause im Turmcafé des Schlosses mit barockem Flair gönnen. Beides wäre ganz im Grass’schen Sinne gewesen. 

—- Zum 95. Geburtstag von Günter Grass, den er am 16. Oktober gefeiert hätte, findet in seiner Geburtsstadt Danzig eine interdisziplinäre Tagung statt. Die Universität Gdansk möchte mit namhaften Referent:innen vom 6. bis 9. Oktober 2022 auf Erforschungsreise gehen. „Günter Grass. Interkulturelle Dialoge und Auseinandersetzungen“ lautet der Leitgedanke. Die Teilnehmer

und Teilnehmerinnen werden sich über neueste Tendenzen in der Grass-Rezeption austauschen und sein Lebenswerk „in der sich so dynamisch ändernden sozio-kulturellen Gegenwart“ zu aktualisieren versuchen. Auf dem Programm steht auch ein Spaziergang im Stadtzentrum zum Thema „Grass‘ intermediale Dialoge mit der Danziger Kunst“. Den Abschluss bildet am Sonntag eine Studienreise in die Kaschubei – ein Landstrich in Polen, den Grass insbesondere über seine „Blechtrommel“ der deutschen Öffentlichkeit nahegebracht hat. Er selbst sah sich aufgrund seiner Familiengeschichte auch als Kaschube.