Winter-Journal 2025 – Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen

Grass‘ Bücher
Ein Blick in die Bibliothek
des Pariser Goethe-Instituts
Deutsch-
französischer
Trommler

Liebe Literaturverbundene,
Heiligabend gab es bei uns zu Hause immer Würstchen und Kartoffelsalat. Diesmal, ohne die Mutter, mussten wir den Salat selber machen: Mayonnaise besorgt, Pellkartoffeln gegart, später dann – die Zwiebel geschnitten und gehackt. Und zum traditionellen Kartoffelpuffer-Essen mit Freunden – natürlich selbstgemacht und handgerieben – etliche Zwiebeln zerkleinert, bis die Augen feucht wurden. Nach der Völlerei blieb die Zwiebel. Nicht nur schwer im Magen, sondern im Gedächtnis. Abends wartete auf dem Schreibtisch das Buch Beim Häuten der Zwiebel. Das autobiografische Werk von Günter Grass musste wieder einmal gelesen werden, weil es eine unverzichtbare Grundlage für unsere Anna und Günter Grass-Ausstellung in diesem Jahr in Paris ist.
Die Zwiebel, unentbehrlich für die Küche – der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch der Deutschen bewegt sich bei neun Kilogramm – und vielseitig in unserem Sprachschatz vorhanden: Zwiebelkuchen, Zwiebelmuster, Zwiebeldach, Zwiebeltürme … nicht zuletzt ist die Zwiebel, die seit 5000 Jahren kultiviert und verzehrt wird, ein Produkt der Weltliteratur. Schon Goethe, der sich der Natur sehr verbunden fühlte, dichtete in Satyros:
„Es tut mir in den Augen weh,
wenn ich dem Narren seinen Herrgott seh.
Wollt lieber ein Zwiebel anbeten,
bis mir die Trän‘ in die Augen träten.“
Der lateinamerikanische Lyriker Pablo Neruda verfasste eine Ode an die Zwiebel. Vom norwegischen Dramatiker Henrik Ibsen stammt ein „Zwiebelmonolog“, in dem die Hauptfigur, der rastlose Egoist Peer Gynt, sein Leben rekapituliert. Viele Schalen fallen ab, einen Kern findet er aber nicht, nichts ist da. Von Heinrich Heine tauchte dieser Tage auf Instagram ein Zitat aus seinen Prosanotizen auf:
„Man preist den dramatischen Dichter,
der es versteht, Tränen zu entlocken. –
Dieses Talent hat auch die Zwiebel, –
mit dieser teilt er seinen Ruhm.“
Zurück also zu Günter Grass, ihm war die Zwiebel Metapher der Erinnerung, „die gehäutet sein möchte, damit freigelegt werden kann, was Buchstab nach Buchstab ablesbar steht: selten eindeutig, oft in Spiegelschrift oder sonstwie verrätselt.“ Weiter heißt es in Beim Häuten der Zwiebel: „Unter der ersten, noch trocken knisternden Haut findet sich die nächste, die, kaum gelöst, feucht eine dritte freigibt, unter der die vierte, fünfte warten und flüstern. Und jede weitere schwitzt zu lang gemiedene Wörter aus, auch schnörkelige Zeichen, als habe sich ein Geheimniskrämer von jung an, als die Zwiebel noch keimte, verschlüsseln wollen.“ Die Zwiebel kommt bereits in Grass‘ Erstlingsroman Die Blechtrommel von 1959 vor: Im sogenannten Zwiebelkeller in Düsseldorf weinen die Schälerinnen und Schäler, als sie die vor ihnen liegenden Zwiebelberge abarbeiten – endlich, endlich Tränen vergießen, nach der Versteinerung durch die NS-Schreckensherrschaft. Schauen Sie sich das kurze Video an, dabei hören Sie Günter Grass:
Aus unserem Medienarchiv
Im noch jungen Jahr denkt einer wie ich gerne über besondere Jahrestage nach, die da kommen werden. Im April der 10. Todestag von Günter Grass beispielsweise. Vor 65 Jahren starb Albert Camus bei einem Autounfall nahe Paris. Zwei Intellektuelle, die beide Träger des Literaturnobelpreises sind und die sich in Gedanken verbunden waren – in der Figur des Sisyphos. Beide, Camus und Grass, sahen in dieser mythologischen Figur eine glückliche Gestalt, obwohl sie zur ständigen Plage verdammt ist, den Stein ihres Lebens immer wieder neu bergauf zu wälzen. Nichts auf Erden ist erledigt, wie Grass betonte. Deshalb muss man sich den Menschen als glücklichen Sisyphos vorstellen. Der Stein bleibt nicht oben, muss ständig geschoben, gerollt werden. Und das hält den Menschen in Bewegung.
Ein großer Erinnerungsbogen wird sich in diesem Jahr über Rainer Maria Rilke spannen, der vor 150 Jahren (4. Dezember) geboren wurde. Er zählt zu den Dichtern, die Günter Grass nach dem Krieg literarisch die ersten Anregungen gaben. Die große Schauspielerin Marlene Dietrich antwortete in einem Spiegel-Interview 1991 auf die Frage nach den sie prägenden Schriftstellern: „Poeten: Rainer Maria Rilke – allein und für immer; Schriftsteller: Ernest Hemingway, Erich Maria Remarque, Joseph Roth, Konstantin Paustowski, Günter Grass, Peter Handke, Albert Camus.“ Sie hat sie alle versammelt.
Rilke wurde bereits zu Lebzeiten von der Öffentlichkeit verehrt, vor allem seiner Lyrik wegen, die die Schönheit und Stärke der Natur feiert. Höhepunkt seines Wirkens bildete die 1907 erschienene Sammlung „Neue Gedichte“. Rilke wurde zu einem der bedeutendsten Vertreter der literarischen Moderne; er brachte die sogenannte Dinglyrik auf den Weg, in der der Umgang mit Objekten – leblosen und lebendigen – in poetische Sprache umgesetzt wird.

Rainer Maria Rilke
heiratete 1901 die
Malerin Clara Westhoff
in Bremen. Foto: Imago
und zehn Jahre seines Lebens hielt sich Rilke in Bremen auf, traf seine Freunde, heiratete, feierte und schrieb viel. In einem Brief vom 29. Dezember 1898 schwärmte er: „Beste Mama, ich habe in Bremen Tage verbracht, deren unbeschreibliche Schönheit mir in der Erinnerung immer lichter und leuchtender wird.“ Rilke und den in Worpswede beheimateten Maler Heinrich Vogeler verband eine jahrelange Künstlerfreundschaft. Es entstanden einige Gedichtbände mit Werken Rilkes und Zeichnungen von Vogeler. Die Ausgabe „Das Marien-Leben“ widmete Rilke seinem Freund, verzichtete allerdings auf die schon fertigen Vogeler-Bilder – er hielt sie für „nicht recht brauchbar“.
In diesen Tagen erscheint im Suhrkamp Verlag eine neue Biographie: Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben. Sandra Richter, Literaturwissenschaftlerin und Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, arbeitete mit neuen Quellen, die mit dem Ankauf des großen Rilke-Archivs 2022 nach Marbach gelangt sind. In der Beschreibung des Verlages liest man: „Diese Biographie macht deutlich, warum es sich heute in besonderer Weise lohnt, Rilke wieder zu lesen: Er lebte in schwierigen Zeiten, und er verarbeitete sie mit einer Wucht, die vielleicht nur im Angesicht existenzieller Bedrohung glaubhaft wirkt.“
Zu guter Letzt
—- Die Günter Grass Stiftung Bremen hat im Netz ein neues Gesicht bekommen. Die Webseite www.grass-medienarchiv.de wurde umgestaltet: Kompakte, auf das Notwendige reduzierte Informationen und verbesserter Service. Dort sind auch Hinweise zu unserem einzigartigen Online-Medienarchiv zu finden, das ebenfalls neu aufgestellt wird. Es verfügt über zeitgemäße, komfortable Suchfunktionen und stellt alle Archivalien mit standardisierten Quellenangaben zur Verfügung. In Kürze wird es online gehen.
—- Auch der „Trommelwirbel“ wird sich künftig verändern. Hintergrund ist, dass unsere Online-Plattform Literaturerleben.de widerrechtlich gekappt, damit geistiges Eigentum der Stiftung zerstört wurde. Unser Journal verwandelt sich in einen (gebrauchs)literarischen und gesellschaftspolitischen „Steinbruch“ (Sisyphos lässt grüßen), woraus jedes Mal kleine multimediale Fundstücke serviert werden – aus der umfangreichen Grass-Schöpfung und ihrer Verästelung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, was Günter Grass selbst als Vergegenkunft definierte.

—- Für den Kalender: Unsere Vorbereitungen für die Pariser Ausstellung „Anna und Günter Grass – von der ‚Blechtrommel‘ bis zum Ballett“ laufen auf Hochtouren. Mittlerweile steht der Termin im Goethe-Institut in der Avenue d’léna 17 fest. Die Eröffnung findet am 15. September 2025 statt; bis einschließlich 28. Oktober 2025 wird die Ausstellung zu sehen sein.
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