Sommer-Journal 2025 – Medienarchiv Günter Grass Stiftung Bremen
Grass‘ Wörter
Wenn man bedenkt,
wie viele Leute froh sind,
wenn ich nicht mehr schreibe –
mein Gott.
Günter Grass im Interview mit „Profil“, 2013
Liebe Literaturverbundene,
in diesem Jahr ist ein kleiner, feiner Roman des französischen Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano auf Deutsch erschienen: Die Tänzerin. Darin erweckt er einmal mehr das alte Paris der 50er und 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts zum Leben. Seine Protagonistin schickt er schon vor acht Uhr morgens zum Gare du Nord. „Dann fuhr sie mit der Metro bis zum Pace de Clichy. Das Gebäude des Studio Wacker war verlottert. Im Erdgeschoss standen etwa zehn alte Klaviere, durcheinander wie in einem Lagerschuppen. In den oberen Stockwerken gab es eine Art Kantine mit Bar und die Balletträume. Sie nahm Unterricht bei Boris Kniaseff, einem Russen, der als einer der besten Lehrer galt … Ein ganz eigener Geruch nach altem Holz, Lavendel und Schweiß.“
Anna Grass, Balletttänzerin, Malerin und erste Ehefrau von Günter Grass, hat in diesen heruntergekommenen Räumen auf knarrenden Holzböden ihre Ballettkunst fortentwickelt. Von 1956 bis 1960 wohnte sie mit ihrem Mann in der Avenue d’Italie 111. Sie suchte und fand in Madame Nora im Studio Wacker ihre neue Lehrmeisterin. Fast täglich zog es sie dorthin; über eine alte Wendeltreppe erreichte sie den Übungssaal. Manchmal standen Weltstars wie Maurice Béjart mit Anna an der Stange, um sich wieder auf den Punkt zu bringen. Modiano schreibt: „Ja, es ging darum, durch ständige Übungen ‚die Knoten zu entknoten‘, und das tat weh, doch waren sie einmal ‚entknotet‘, verspürte man Erleichterung, man war befreit von den Gesetzen der Schwerkraft, genau wie in Träumen, wo der eigene Körper in der Luft schwebt oder im leeren Raum.“ Dieses Gefühl des Gelöstseins oder sogar Sichauflösens kann die heute 92-Jährige Anna Grass nachvollziehen, ebenso die schmerzhaften An- und Verspannungen. Jedenfalls gehörte das Bedürfnis, sich extrem zu bewegen, stets zu ihrem Alltag. Wenn an Wochenenden das Studio Wacker geschlossen blieb, empfand sie das für sich „als mittlere Katastrophe“. Entzug.
Ende einer
Institution
Abhängen. Abschied nehmen: 1974 besuchte Anna Grass ein letztes Mal das Studio Wacker in der Rue de Douai 67-69. Es war schon für Auflösung und Abriss hergerichtet. Heute erinnert eine Gedenktafel an die Institution – eine Ballettlegende.
Foto: Günter Schulz
Füreinander bestimmt – auf Zeit
Leben in Paris, Tanzen und Ballett, Schreiben und Zeichen – diese Dinge stehen im Mittelpunkt unserer Ausstellung Anna & Günter Grass – Die Pariser Jahre des Künstlerehepaars, die am 15. September im Goethe-Institut in Paris eröffnet wird. Erste Aufbauskizzen vermitteln einen Eindruck vom Projekt, das die Günter Grass Stiftung Bremen mit der Bremer Gruppe für Gestaltung (GfG) und dem Goethe-Institut Paris realisiert. Die Endphase der Fertigstellung hat begonnen.
Die Ausstellung richtet den Blick besonders auf Anna Grass, eine Frau mit französischen Wurzeln, die ihren eigenen künstlerischen Weg ging und als Korrektiv im Schaffen des jungen Günter Grass wirkte. Im feuchten Hinterhof in der Avenue d’Italie, Paris, schrieb Grass für kein Publikum, er schrieb „erstens, zweitens und drittens für mich und für Anna“. „Die Blechtrommel“, einer der meist verkauften und vielfach übersetzten Romane von Grass, ist Anna gewidmet. 1957 wurden mit den Zwillingen die ersten Kinder des Paares geboren. Die Ausstellung erzählt mit eigens zusammengestellten Collagen aus unserem audiovisuellen Medienarchiv die Geschichte einer Liebe. „Wir haben uns versprochen, dass wir uns nie trennen würden“, sagt Anna. Und Günter Grass: „Unzertrennlich und füreinander bestimmt schienen wir zu sein und waren es auch.“ Gleichzeitig ist die Ausstellung dem Sprachgenie Grass gewidmet, dessen schneller Ruhm seine begabte Partnerin und deren Karriere zunehmend belastete. Anna fand und ging ihren eigenen Weg in der performativen Kunst; Günter wurde zu einem der bedeutendsten Autoren und Intellektuellen seiner Zeit.
„Wenn man bedenkt, wie viele Leute froh sind, wenn ich nicht mehr schreibe – mein Gott.“ Man spürt, hört förmlich den selbstironisch-kokettierenden Unterton in Grass‘ Stimme. Nun, er hat glücklicherweise bis zuletzt weiter geschrieben und sich eingemischt. Jedenfalls führte seine Denk- und Schaffenskraft vielfach zu einer Hinterlassenschaft, die heute noch aktuell ist, die erregt, anregt, amüsiert. Was also bleibt vom Universaltalent und Bürger Grass? Die Frage soll Thema einer Veranstaltung mit französischen Intellektuellen im Rahmenprogramm unserer Pariser Ausstellung sein.
Der poetische Grass ist vom politischen Grass nicht zu trennen und umgekehrt. Verantwortung übernehmen, das war sein Credo als Künstler und Zeitgenosse. Das hörte bei ihm nie auf. Wie sehr sich politisches Geschehen und literarisches Wirken bei Grass bedingen, wird in seinen Erinnerungen an ihre Pariser Zeit von 1956 bis 1960 exemplarisch. In seinem autobiografischen Werk „Beim Häuten der Zwiebel“ liest man zum Entstehen der „Blechtrommel“: „Und während in Paris der Algerienkrieg mit Plastikbomben sein Echo feierte und wir in Kinos sowjetische Panzer auf den Straßen von Budapest sahen, fand ich endlich vor der fließenden, weil feuchten Wand meiner Werkstatt den ersten Satz: ‚Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt.‘ In Paris schrieb ich Kapitel nach Kapitel. In Paris kam de Gaulle an die Macht und lernte ich, die Knüppelgewalt der französischen Polizei zu fürchten. In Paris wurde ich zusehends politischer.“
Seine sogenannte „Danziger Trilogie“, bestehend aus „Die Blechtrommel“, „Katz und Maus“ und „Hundejahre“, machte Günter Grass international berühmt. Darin rechnet er mit dem Nationalsozialismus ebenso ab wie mit dem raschen Vergessen und dem Mief im Nachkriegsdeutschland. Seine dichterischen, zeichnerischen und bildhauernden Werke sind von hoher emotionaler Kraft, seine Kunst wird zum Katalysator für gesellschaftliche Diskurse. Bald fällt ihm die Rolle als moralische Instanz zu, er ist als politischer Redner für Demokratie gefragt, seine Wahlkampfauftritte für die Sozialdemokratie polarisieren. Grass hat ein sinnliches, tiefgründiges und breit gefächertes Lebenswerk hinterlassen. „Und doch wird ein Rest ungesagt bleiben“ gibt er uns in seinen „Fundsachen für Nichtleser“ mit auf den Weg.
Zu guter Letzt
—- Das Günter Grass-Haus in Lübeck wurde gerade umfassend modernisiert: neue Lichtanlage und optimierter Brandschutz. Jetzt ist es wieder geöffnet und punktet mit einer neuen, reizvollen Ausstellung: Else Lasker-Schüler – Künstlerin, Dichterin, Weltbauerin. Mit über 80 Zeichnungen, Briefen und Publikationen, die aus privaten und öffentlichen Sammlungen zusammengetragen werden, lädt die Schau dazu ein, das Zusammenspiel von Sprache und Bild in Lasker-Schülers künstlerischem Erbe neu zu entdecken. Else Lasker-Schüler (1869–1945) zählt zu den herausragenden, vielseitig begabten Persönlichkeiten der Klassischen Moderne. Günter Grass hat ihr ein Kapitel in „Mein Jahrhundert“ (1901) gewidmet.
https://grass-haus.de/
—- Studierende der „Neueren deutschen Literatur im medienkulturellen Kontext“ an der FernUniversität in Hagen kamen Anfang Juni zu einem ersten Wochenendseminar zusammen – und zwar in Bremen. Unter Leitung von Prof. Peter Risthaus und in Kooperation mit dem Medienarchiv Günter Grass erkundeten sie im Staatsarchiv die wechselvollen Beziehungen zwischen dem Literaturnobelpreisträger und der Hansestadt. Diese begannen 1959 ziemlich holperig bis skandalös, weil eine Jury Grass den Bremer Literaturpreis für seinen gerade erschienenen „Blechtrommel“-Roman zuerkannt hatte, der Senat (Landesregierung) ihm die Auszeichnung anschließend aber verweigerte. Mit großer Neugier und viel Engagement stöberten die Teilnehmerinnen in den alten Akten, deren Inhalte dem Internet noch weitgehend unbekannt sind. Zum Schluss wurden Dokumente aus dem Medienarchiv der Günter Grass Stiftung Bremen zum Thema gesucht, ausgewählt und diskutiert. Am Ende des Seminars gab es allerhand neue Erkenntnisse und zufriedene Gesichter.