Die Literaturgeschichte entwickelt sich heute nicht mehr allein zwischen Buchdeckeln, sondern auf Kommunikationsmärkten, in diversen Multi-Media-Arenen und -Szenerien, in fragmentierten Groß, Klein- und Kleinstöffentlichkeiten von Präsentation, Lektüre und Kritik. Literatur ist wie alle anderen historischen Dokumentarien auf digitalen Datenträgern universal und gleichsam entzeitlicht verfügbar. Doch dem entspricht ein schwindendes Primärinteresse am künstlerisch Autonomen, die Modalitäten traditioneller Literatur- und Geschichtswahrnehmung verschmelzen zunehmend mit der KI-gesteuerten (bild-)suggestiven Multi-Media-Inszenierung. Gerade deshalb soll sich Literatur als Face-to-face-Rede wie als multiple Präsentation von Visualität, als wissenschaftlich erschlossenes, interaktives und digitales Wort-Bild-Archiv-Unternehmen behaupten.
Bewahrung und Vermittlung deutscher Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur
Das Bremer Günter Grass Medienarchiv widmet sich unter besonderem Blickwinkel und auf avanciertem Forschungs- und Technikniveau der Sicherung und Tradierung, der Vergegenwärtigung und Analyse unserer Gegenwartsliteratur. Im Zentrum der Unternehmung steht nicht weniger als das einzigartige Audio- und Bild-Erbe der deutschen Nachkriegsliteratur im Kontext der Geistes-, Diskurs- und Mentalitätsgeschichte einer Republik, die darauf angewiesen ist, ihre ‚Nationalkultur’ mit und in einer globalisierten Medien-Moderne digital zu verschalten. Es geht darum, unter der Perspektive des Günter Grass’schen Werk- und Wirkungskomplexes das Gesamtaufkommen des gesprochenen und visualisierten Wortes der deutschen Gegenwartsliteratur dem öffentlichen Dokumentationsinteresse und der privaten Nutzung weltweit zur Verfügung zu stellen. Inhaltlich handelt es sich um zahllose (?) Lesungen und Reden des AutorKünstlers, um seine Vorträge und Debattenbeiträge, Interviews und Dokumentationen in Wort und Bild, um filmische, radiophone und tv-Adaptionen, die nach 75 Jahren Wirkungsgeschichte eine Art geistige Klang-Bild-Gestalt dieses Landes, ein Hör- und Seh-Panorama der Bundesrepublik in wichtigen Entwicklungsprozessen und -ereignissen wahrnehmbar machen können.
Das Ziel digitaler Archivierung
Es geht dabei auch um die ‚natürliche‘ Physiognomie von Stimmen und Bildern, die, obwohl digital gefiltert und moduliert, geschnitten und arrangiert, ihre atmende Körperlichkeit, ihre Erregungstempi und Nachdrücklichkeit bewahrt haben. Im aufmerksamen Erlebnis dieses Archivmaterials kann Tradition zu medial vergegenwärtigter Eigenzeit werden. Es wird hörbar und sichtbar, was in der Historie der Intellektuellenkultur und Politik dieses Landes oft unerhörterweise zu den Akten gelegt und vergessen oder verzerrt worden ist. Beim Hören und Betrachten dieser Lesungen, Diskussionsbeiträge, Einsprüche und Meinungsemphasen ist durchaus, was Niklas Luhmann nur der Schriftlichkeit zutraut, ein kritischer Rückbezug zur eigenen Kommunikativität des Wahrnehmenden im Spiel. Denn die rhetorischen Selbstinszenierungen und pragmatischen Formulierungsbemühungen eines Schriftstellers und Künstlers wie Grass, mit ihren Sprach- und Sprechenergien und Konflikten, den besonderen Zeit-Aromen, Stimmungslagen und Individualspuren des Redens, lassen dem heutigen Zuhörer allen Raum zur Annahme, Ablehnung oder Relativierung des Kommunikationsangebots. Dieses Hin-Hören und Hin-Sehen stellt auch bei den Rezipienten einen assoziativen Prozess dar. Wenn Phantasie als die eigentliche Weise des Bewusstseins im Problematischen gilt, kann das multimediale Hören/Schauen zu neuen und überraschenden Erkenntnissen führen. In der digitalen Wort-Bild-Dokumentation des Günter Grass Medienarchivs Bremen wird eine Sinn(en)-Erfahrung möglich, die unsere „zeitpunktweise aktuelle Welt“ als dokumentarische Selbstvergewisserung unserer gemeinsamen Republikgeschichte erscheinen lässt.
Harro Zimmermann
Jahrgang 1949, war Kulturredakteur bei Radio Bremen und Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bremen. Er ist Mitglied im deutschen PEN-Zentrum und in der Jury der »Sachbuch-Bestenliste« von Literarischer Welt, ORF 1, RBB, Neuer Zürcher Zeitung und in unserem Kuratorium. Seine letzten Publikationen beschäftigten sich mit der deutschen Aufklärung und mit biographischen Studien zu Friedrich Schlegel, Friedrich Gentz, Carl Ludwig Sand, Friedrich Sieburg und Günter Grass.
2023 erschien seine Günter Grass Biographie im Osburg Verlag.